Besprechung der Habilitationsschriften von Bernhard Casper und Peter Hünermann

Das Buch Bernhard Caspers als „Weg“*

In der Tat gewinnt der Leser des Buches von Bernhard Casper den Eindruck, einen Gang, einen Weg geführt zu werden. Bruchstücke von Gedanken, die einem gängigen philosophischen Bewußtsein beiläufig bekannt und auch bemerkenswert, doch am Rande der großen Strömung und Entwicklung der Philosophie zu liegen schienen, ergänzen sich da auf einmal zur Bahn. Sie stehen nicht mehr fremd und vereinzelt im Kontext der Denkgeschichte, sondern verweisen aufeinander und verwachsen miteinander zu einem alles bedenkenden, das Ganze lichtenden Gefüge, doch zum Gefüge eben des Weges, der nicht fertig wäre und in sich endete, der vielmehr sein Woher und Wohin, der sein Angrenzen und seine sich windende Bahnführung hat. Das dialogische Denken wird nicht System, sondern Anlauf, der aus den Voraussetzungen herauswächst, die seine geschichtliche Stunde im Ganzen und Allgemeinen prägen, durch sie hindurchführt ins Gegenwärtige hinein und weiterweist ins noch Unbegangene.

Diesen Weg-Charakter zeigt Caspers Arbeit bereits in ihrer Anlage. Am Anfang behandelt sie einläßlich das über 200 Titel umfassende (Casper 18), in sich eigenständige, durch die nur sehr spärliche und zudem überarbeitende spätere Rezeption ins Gesamtœuvre aber leicht als solches entgehende Frühwerk Bubers vor seiner Wende zum dialogischen Denken (17–65).

Alsdann kehrt sie sich unmittelbar dem dialogischen Denken zu, und zwar folgerichtig zunächst dem Werk Franz Rosenzweigs (69–197), das geistesgeschichtlich für Bubers Wende entscheidend, philosophisch der gewichtigste und grundsätzlichste Ansatz und im Blick aufs ihm Künftige die kühnste Antizipation von erst beim späten Heidegger (ohne dessen bewußten Rückgriff auf Rosenzweig) Ausgetragenen heißen darf. Sodann geht der Weg weiter zu Ebner (198–269), der in fragmentarischer Form aus eigenem Ansatz ins selbe weist wie Rosenzweig. Und schließlich führt er zum „dialogischen“ Werk Bubers (270–346), das die gesamte Bewegung eigenständig zu einer weithin wirksamen Form ausgestaltet, die an literarischer Eingängigkeit und thematischer Vielseitigkeit den Höhepunkt des dialogischen Denkens darstellt, gleichwohl aber – das macht Casper deutlich – hinter der gedanklichen Konsequenz und Radikalität von Rosenzweig zurückbleibt.

Der äußere Gang von Buber über Rosenzweig und Ebner zu Buber zurück birgt so den inneren Weg der Untersuchung als einen Weg über Buber hinaus. Dieser Weg zeigt sein Richtmaß, wie bemerkt, am ehesten im Denken von Franz Rosenzweig, nicht weil Casper „Rosenzweigianer“ wäre, sondern sofern bei Rosenzweig am schärfsten das dialogische Denken, und das heißt: das auf die Weise der „Metaphysik“ nicht mehr zu Denkende in Beziehung auf die Metaphysik und im Abstoß von ihr, zu seinem durchgeklärten Ausdruck gelangt.

So geht es dem Weg, den Casper führt, also nicht um eine Aufreihung festzustellender Figuren des Gedankens, die um dieselbe Problematik kreisen und voneinander genetisch abhängig sind oder formal miteinander konvergieren; er ist vielmehr bestimmt von einem eigenen Verständnis dialogischen Denkens, das sich im Mitdenken der erforschten Gedanken erhebt und sie so zugleich richtet. Der Dialog, das Mitdenken aus der anderen Zeit des eigenen Denkens mit den vorgedachten Gedanken, die darin zu partnerischen Gefährten werden, ist der Schlüssel der forscherischen und denkerischen Arbeit Caspers, die ihren Gegenstand so in ihre eigene Methode einholt.

[384] Um aufs Forscherische einzugehen, das durch solches Mit-Denken in Gang gebracht und füglich von ihm nicht zu trennen ist: Zunächst tritt, wie erwähnt, die in sich bewegte und doch deutlich umgrenzte Frühphase Bubers ans Licht, durch neues Material und durch zuvor verborgene Dimensionen des bekannten klar belegt.

Zwei Erkenntnisse fallen hier besonders auf: Buber steht in dieser Zeit, also bis zum Anbruch der zwanziger Jahre, mitten in den geistigen Strömungen der damaligen Zeit, der neukantianische Hintergrund, die Nähe zu Simmel, Bergson und auch Nietzsche, der bewegende Einfluß Diltheys zeichnen sich ab, die Vielfalt dieser Linien schießt indessen doch zusammen zur Einheit der Richtung: wenn auch das Subjekt als einsames Ego verlassen wird in der Ekstase der Tat, die von Gemeinschaft, Volk, Epoche getragen ist, so kommt gleichwohl die Bewegung des Gedankens nicht von sich, von der wesenhaften Einsamkeit sich selbst setzenden und entfaltenden Ursprungs, von der Subjektivität, los.

Dennoch tragen sich motivlich in diesen Ansatz die gegenläufigen Elemente immer stärker ein, es seien die Kritik der abendländischen Substanz-Metaphysik, die Rede vom „Zwischenmenschlichen“ und vom „Ereignis“ erwähnt.

Die nächste und für die Forschung insgesamt entscheidende Frucht der Arbeit Caspers ist seine Erschließung des Rosenzweigschen Gedankens und Werkes im Ganzen. Hier tritt, durch Heranziehung noch ungenutzten Materials, der geistesgeschichtliche und biographische Hintergrund so plastisch und so erhellend für den Gedanken zutage, wie es nur zu wünschen ist. Kants Erbe, die Vertrautheit mit der historischen und naturwissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweise umschreiben roh das Organon, auf das Rosenzweig im Aufbrechen seiner unmittelbaren denkerischen Begegnung mit der Wirklichkeit, d. h. für ihn zugleich: mit dem sich offenbarenden Gott, zurückgreift, und den Weg, der dieses Aufbrechen anbahnt.

Sodann aber unternimmt es Casper, in einer exemplarischen Mühe und Durchsichtigkeit des Mitdenkens den Grundgedanken zu erheben und zu entschlüsseln, der im Hauptwerk Rosenzweigs, im „Stern der Erlösung“ eindeutig und doch unter seiner großen, aber eigentümlichen Form verdeckt geborgen liegt. Gerade die – man muß sagen erstmalige – Erkenntnis des Rosenzweigschen Gedankens als solchen ist an Caspers Buch das Neue, das auch in Michael Theunissens wegweisendem Werk „Der Andere“ (Berlin 1964) noch nicht geleistet werden konnte.

Die Urintention Rosenzweigs, die Casper genetisch und gedanklich klar herausschält, ist „die Erfahrung der Sprache gemäß ihrem ‚ganz wirklichen Gesprochenwerden‘“ (157), also in der Wechselrede. In ihr sind die Urphänomene vorausgesetzt, die eine – im eigentümlichen Sinn Rosenzweigs verstandene – Phänomenologie gewinnt: Gott, Welt, Mensch als die Grundgehalte, auf deren einen das zeitlose Denken je alle anderen und somit alles zu reduzieren versucht ist, die so aber in ihrer Wirklichkeit verfehlt werden, die nur im Zusammen, im „und“, in der Beziehung sich vollbringt. Diese Beziehung aber, als Schöpfung, Offenbarung, Erlösung sich artikulierend, ereignet sich in der Sprache als gesprochen werdender, in jenem „Denken“, durch welches und als welches diese Sprache sich vom bloßen, vom reduzierenden, vom metaphysischen Denken unterscheidet: Sprache als das Denken, welches der Zeit und des Anderen bedarf, welches also nicht mehr sichernde Rückführung des Begegnenden aufs Selbstverständliche, sondern Freigabe ans Unselbstverständliche bedeutet.

Die Loslösung des Denkens von seiner Selbstvollbringbarkeit und somit wesentlichen Zeitlosigkeit und Einsamkeit, in der es nur sich und in sich nur seine eigene Selbstverständlichkeit hat, in die Bedürftigkeit der Zeit und des Anderen, worin das „und“ der Wirklichkeit, der Beziehung der Urphänomene aufeinander geschieht, ist indessen für Rosenzweig kein Untergang des Denkens ins Chaotische und Planlose leerer Relativitäten, das Denken als Gespräch wird zur beständigen Übersetzung, die als solche von der Hoffnung auf die eschatologische Verständlichkeit aller Sprachen füreinander in der einen Neuen Sprache lebt, die freilich nicht evolutiv erreichbar oder technisch machbar ist, sondern nur als reine Gabe göttlicher Huld verhofft werden kann.

Die in Caspers Darstellung ausgetragene Behutsamkeit, Vielschichtigkeit und phänomenale Erhellungskraft Rosenzweigschen Denkens erhebt es über den Eindruck der einseitigen Verkürzung, der in unserer Skizze entstehen muß.

Das in die Tiefen und Verästelungen des Rosenzweigschen Werkes hineingewachsene Mitdenken Caspers kann in der sodann folgenden Interpretation Ferdinand Ebners dessen eigen- [385] tümlichen Gesprächsbeitrag zum dialogischen Denken klar herausheben, seine Sonderstellung gegenüber den Juden Buber und Rosenzweig als Christ ist für diesen Beitrag von Belang. Das Erscheinen der Briefe als letzten Bandes seiner Werke eröffnet auch bei Ebner der Forschung Caspers erstmalig die gesamte Breite einschlägigen Materials.

Casper entfaltet den Gedanken Ebners aus seiner „pneumatologischen Intuition“ in die Sprache, ins „Wort in der Aktualität seines Gesprochenwerdens“, in die Wechselrede also, als das Urphänomen (vgl. 203), entdeckt aber auch die Spannungen und Einseitigkeiten, die Ebner dem Ausgang vom Ich nicht radikal entkommen und ihn die Welthaftigkeit des Ich-Du in etwa vergessen lassen (259–269).

Aus solchem Kontext erhebt sich schließlich Caspers Darstellung und Deutung des „dialogischen“ Buber, ein Kapitel, das durch die – keineswegs einseitige, sondern den hohen Rang achtende – kritische Herausdestillierung des Rosenzweig gegenüber verengten Ansatzes, den Buber macht und dem er bis in feine Konsequenzen hinein verhaftet bleibt, den gedanklichen Ertrag des Voraufgehenden nochmals von anderer Seite erheblich bereichert.

Wir verweisen auf die vier Titel: „Der Ausgang von dem intentionalen Schema“ (295) – Buber denkt die Grundworte Ich-Du und Ich-Es von der „Haltung“, also vom ihnen insgeheim doch vorausgedachten Ich her; „Die Gefahr der Alternativik“ (297) – der Appell zum Vollzug des Ich-Du läßt leicht die positive Verwiesenheit des Ich-Du aufs Ich-Es alternativisch außer acht; „Die Negativität des Zwischen“ (299) – was zwischen Ich und Du sich ereignet, die Beziehung, die es gerade zu denken gilt, wird in der Folge des intentionalen Grundschemas nur negativ bestimmbar; „Sprache“ (300) – sie wird von Buber nicht wie bei Rosenzweig als Sprache, und das heißt als Wechselrede, gedacht, sondern vom Wort her, welches wiederum intentional vom Ich ausgeht. Diese Verengungen des Ansatzes wirken auch in seine – bei aller Denkwürdigkeit – teilweise mißverstehende Kritik am Christentum, in welcher er nur die jeweilige Offenbarung des Augenblicks, nicht aber eine im je neuen geschichtlichen Aufgang doch in die Geschichte hinein währende Offenbarung anzuerkennen vermag, dem aus der „Haltung“ aufgehenden Ich-Du-Verhältnis droht wiederum der Weltverlust (zur Kritik am Christentum vgl. bes. 331–334).