Besprechung der Habilitationsschriften von Bernhard Casper und Peter Hünermann

Das Buch Peter Hünermanns als „Gespräch“*

Nach dem groben Umriß des forscherischen Inhaltes der Untersuchung von Bernhard Casper soll der entsprechende Hinblick auf Peter Hünermanns Buch versucht werden.

Ließen sich Methode und Anlage des Casperschen Buches als „Weg“ deuten, so entspricht dem Stil Hünermanns eher, seine Arbeit ein „Gespräch“ zu nennen. Die einzelnen Partner kommen scheinbar vereinzelter an sich selbst zu Wort, melden ihren je eigenen Gedanken zum selben an, werden aber dabei – und das enthüllt die Unbezogenheit eben als nur scheinbar – vom deutlich selben Hörer auf ihre Gedanken hin vernommen, der in solchem Vernehmen dazu heranwächst, sein einläßliches und gewichtiges Wort am Schluß selbst zu sagen, sicher erst im Vorblick und Entwurf zu sagen, aber doch eben in einer Position, die primär nicht im Durchgang gewahrte Linien ins Künftige weiterzieht, wie Casper dies tut, sondern im Hören aufs schon von anderen Gesagte unmittelbar neue Linien ansetzt. Der Grund hierfür liegt in der notwendig größeren Distanz des Mitdenkens zu den behandelten Denkern der Geschichtlichkeit als zu denen des dialogischen Denkens – Dilthey oder auch Yorck bedeuten fürs geschichtliche Denken trotz ihres hohen philosophischen Ranges nicht, was Rosenzweig fürs dialogische, und wenn jemand bei Hünermanns eigenem Schlußwort ins Gespräch übers geschichtliche Denken ihm über die Schulter schaute, so – wie er selbst vermerkt (376) – am ehesten gerade der aus dem Gespräch mit Casper ihm erhellte Franz Rosenzweig.

Es mag wie eine Ironie anmuten, daß das Werk übers dialogische Denken sich als Weg, das übers geschichtliche sich als Gespräch entfaltet. Im Grunde ist es indessen nur die Bestätigung, daß das neue Denken, so oder so artikuliert, der Zeit und des Anderen bedarf.

Doch nun zu den von Hünermann vernommenen Stimmen.

Ein wenig fremd erklingt am Anfang die insgesamt auf eine gemeinsame Grundformel gebrachte der katholischen Tübinger Schule (21–48) – Drey, Staudenmaier und Kuhn steuern das Wichtigste dazu bei. Die Fremde rührt daher, daß es sich bei den genannten Tübingern ex professo um Theologen, bei ihrem Denken um Innertheologisches handelt, daß ferner ihnen ein allen hernach bedachten Gedanken gemeinsamer Zug abgeht, die Reflexion auf die Methode [386] der Geisteswissenschaften, schließlich daß ihre philosophischen Grundlagen doch noch direkt und tief eingewurzelt sind in der Gedankenwelt des deutschen Idealismus, von dem der folgend gezeichnete Aufbruch geschichtlichen Denkens sich gerade abstößt. Gleichwohl scheint dem Rezensenten begrüßenswert, daß Hünermann mit dieser Stimme das Gespräch eröffnet. Sie macht das Woher solchen Abstoßes und den Vorverweis auf ihn im verlassenen Gelände deutlich, zudem reicht das Interesse der Tübinger an der Offenbarung als „gott-menschlichem Gespräch“ (vgl. auch 372), und das heißt doch: an der Unauflösbarkeit des Ereignischarakters der Offenbarung ins Selbstgeschehen sich erdenkenden Geistes, bereits herüber ins Eigene und Eigentliche geschichtlichen Denkens. Wenn Hünermann zeigt, wie die Rückführung des Gedankens in ein System sein „Geschichtliches“ wieder verfremdet (42/8), so wird die den ganzen Lauf des Gespräches durchziehende Dynamik anfänglich offenbar: die Hellhörigkeit auf den Vorklang als solcher gedachter Geschichtlichkeit, wo sie noch verdeckt scheint, und anderseits die Enthüllung „metaphysischer“ Implikate in den bewußten Anläufen des Neuen. Nicht um einer Klassifizierung und äußeren Beurteilung der Gesprächspartner willen hegt Hünermann solche zwiefältige Achtsamkeit, sondern weil so das geschichtliche Ringen geschichtlichen Denkens um sich selbst in der zwiespältigen Stunde seines Aufbruchs sich dem Mitdenken antut.

Diese Weise der Darstellung von Geschichte bestätigt Droysens bedeutsame neue Sicht der Geschichtlichkeit als ἐπίδοσις εἰς αὑτό, als Werdens zu sich selbst, in dem immanente Differenz und Gewähr des Geschichtlichen aufgehen (98–101). Dieser Aufstieg eines neuen Gedankens, zugleich seine Umklammerung vom anderen Verstehen desselben Geschichtlichen als Willens zur Macht (96–98), aber auch der Verweis des Geschichtlichen als ἐπίδοσις εἰς αὑτό auf die ihm je entzogene gewährende Macht seiner selbst und ihren heiligen Charakter (bes. 101f.): dies sind die wichtigen Aufschlüsse, die Hünermanns Eingehen auf Droysens Historik vermittelt.

Dem schließt sich das umfangreiche Dilthey-Kapitel an (133–291). Von ihm darf, mutatis mutandis, dasselbe gesagt werden wie vom Rosenzweig-Kapitel Caspers. Geht es in Hünermanns Arbeit im ganzen auch weniger als bei Casper um die Erschließung neuen Materials, so ist doch gerade seine Interpretation Diltheys eine Neuerschließung des Gedankens. Die vielfältig und breit dahinfließenden, um nicht zu sagen: zerfließenden Linien Diltheyschen Denkens, das eine stupende Masse geistesgeschichtlichen Stoffes bewältigt und in diesem seinen eigenen Ductus, seine eigene Strenge verbirgt, werden hier nicht etwa schematisiert und auf eine äußerlich griffige Formel verkürzt, doch es gewinnt seine Klarheit und Einheit als das in stufenweisen Anläufen und durch nicht abreißende innere Gegenläufigkeiten hindurch erfolgende je neue Hindenken aufs Wesen der Geschichtlichkeit: die Hingabe ans Leben (280–283), wie sie Diltheys späte Fragmente umkreisen und wie sie in früheren Motiven und Gedanken sich vorbereitet (bes. 189–191), wird in Hünermanns Interpretation als die Aufgabe der Selbstbehauptung offenbar, welche Aufgabe nicht mehr in eine selbst wieder fix behauptete Sinnmitte eingeht, sondern als reine Freigabe an die reine Gewähr geschieht, mag diese in der Ausdrücklichkeit des Gedankens den bei Droysen expliziten Charakter des Heiligen auch verschleiern.

Aus der Höhe dieser, merklich im mitdenkenden Gespräch übers bloß Feststellbare hinausgewachsenen und doch verläßlich an ihm orientierten Interpretation Diltheys – die ihren Stand gegen die bisherige Diltheydeutung selbst diskutiert (284–291) –, gelingt sodann die Darstellung des im freundschaftlichen Dialog zu Dilthey entwickelten Gedankens des Grafen Paul Yorck von Wartenburg (293–369) – er liegt der theologischen Fragerichtung Hünermanns noch näher und ist auch in seiner spekulativen Durchbildung wohl noch klarer und tiefer und fürs Verstehen der Geschichtlichkeit als solcher noch fruchtbarer als der seines großen und bekannteren Gesprächspartners.

Doch auch hier verstrickt sich die fundamentale Einsicht in das allen idealistischen Reduktionen vorlaufende „Geschick des Lebens in Ur-teilung und Zugehörigkeit“ und in die Transzendenz aller Selbstbehauptung in der lauteren Freigabe, die ihr geschichtliches Ereignis im Tode Jesu und in der gläubigen Gemeinschaft der je eigenen Übernahme des Todes hat (vgl. bes. 317–323, 354–361), wieder mit systemhaft-ungeschichtlichen Elementen und Sekundäransätzen (vgl. 366–369).