Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Das Dilemma des „doppelten Wesens“Gottes

Gott als der ungöttliche, der bloß „hypothetische“ Gott, der in seiner theoretischen Kontur bloß fertige Gott, der Gott, der [234] Gott im Denken der positiven Philosophie νοήσεως1 ist und, indem er theoretisch so gedacht wird, doch praktisch dem Bedürfnis, dem Hoffen aufgeht, die ihn aber als den wirklichen, den Gott am Anfang, den Gott des Anfangenkönnens erwarten: dieses ist das eine Dilemma, welches das Ende negativer Philosophie der positiven zur Lösung überläßt. In dieses erste. greift ein weiteres ein und gibt der praktischen Aufgabe, die das erste stellt, die theoretische Konkretisierung.

Wir stellen zunächst die scheinbar widersprüchlichen Aussagen Schellings zusammen:

Gott ist in sich selbst, wenn er ist, nichts anderes als reiner Actus, reines Daß, nicht Ergebnis der Vernunft, sondern ihre Voraussetzung2. Das absolute Daß, die reine Voraussetzung der Vernunft ist, für sich allein, aber gerade noch nicht Gott, sondern erst das Prius der Gottheit, jenes, was Gott sein kann, sich aber in seiner Gottheit erst erweisen muß3. Das Wesen Gottes selbst ist, actus purus zu sein, nichts von einem Was, von einem Allgemeinen, somit Potentiellen in sich zu tragen4. Wäre er aber nur Actus, nur Daß, so wäre er gerade nicht Gott5. Der Aufstand der Was-Frage vor dem unbedingten Daß ist nicht Protest der Vernunft gegen Gott, sondern die Erhebung Gottes in seine Gottheit. Gott ist nicht das der Vernunft einfachhin Transzendente, sondern das ihr immanent gemachte Transzendente6. Er ist also nur Gott, wenn er nicht nur das ist, was Gott selbst ist, sondern auch jenes Andere, das an sich „toto coelo von ihm verschieden“ ist, das schlechthin Allgemeine, die Idee, das universale Wesen7. Das Seiende, die omnitudo realitatis ist das „Etwas“, zu dem das unvordenkliche Daß in Beziehung stehen muß, um in Wahrheit zu sein.

Gott hat also zugleich es zum Wesen, kein Wesen zu haben, reiner Actus zu sein – dieser ist ihm fürs Wesen und als Wesen, und doch auch ebenso zum Wesen, das Wesen schlechthin, das Allgemeine, das Prädikat „zu sein“, das an sich selbst gerade nicht ist.

Worauf dieser zunächst widersprüchliche Befund hinaus will, [235] liegt auf der Hand: Gott ist nur Gott als der der Wirklichkeit mächtige.

Somit ist zweierlei erfordert:

  1. Er selbst darf nicht zusammengesetzt sein aus Akt und Potenz, keine Potenz darf seinem Sein als reinem Ursprung zuvorkommen, er darf nicht das Ergebnis der Vernunft, sondern muß ihre unvordenkliche Voraussetzung sein; das heißt also: er muß selbst wirklich, ja reine Wirklichkeit sein, Prinzip, nicht Prädikat, Einzelwesen κατ‘ ἐξοχήν, nicht Allgemeines8.

  2. Soll er der Wirklichkeit mächtig sein, so muß aber die Möglichkeit, das Allgemeine, das Wesen einen Bezug zu ihm haben als jenes, worin allein die Wirklichkeit sich selber hell, in sich gelichtet, so sich besitzend, ihrer mächtig ist, und worin sie auch allein zu etwas erschlossen und geöffnet sein kann, worüber sie mächtig, was von ihr vermocht ist.

Nur als seiner und dessen, was sein kann, ansichtig und mächtig ist Gott Gott, will sagen: Herr des Seins. So schließt seine Gottheit also das „doppelte Wesen“ und die unmittelbare Negation des einen durchs andere mit ein:

a) Er ist reiner Actus ohne alles Was – in der bloßen Aktualität des reinen Akts ist er aber gerade noch nicht in seiner Göttlichkeit.

b) Er ist das das-Seiende-seiende, zieht also das Seiende, das universale Was als sein Wesen an, in und über dem allein er herrlich ist – dieses Was selbst ist aber gerade nicht Gott, sondern das Gegenteil von dem, was er ist, von reiner Wirklichkeit.

Die Aufgabe des Gottesbegriffes, den die positive Philosophie zu gewinnen hat, tritt hervor: sie hat Gott so zu denken, daß beides zugleich gedacht ist, was zu seiner Herrschaft des Seins gehört, und er darin doch als der eine und einzige Herr des Seins eindeutig gedacht ist. Nur so ist er der wirkliche Gott, der Gott der Hoffnung und des Anfangs.

Um einen im Gesagten enthaltenen Vorblick auf das Instrumentarium des Denkens für diese Aufgabe namhaft zu machen: Die Doppelheit des Wesens Gottes und die Forderung, in ihr den einen Gott zu denken, anders gesagt: Gott als reines Daß und als In- [236] begriff der Möglichkeit und als beides zugleich – solches sagt unmittelbar etwas anderes, als die Potenzen uns bislang sagten, und doch verweist es formal auf ihren sie verbindenden Dynamismus und material auf ihre Grundgehalte.


  1. XIII 106, XI 559 Anm., vgl. XIV 350/51. ↩︎

  2. Vgl. etwa IV 23, XI 586. ↩︎

  3. XIII 167/69, 159/60. ↩︎

  4. Vgl. XI 585, 588/89, XIII 174. ↩︎

  5. S. XI 587. ↩︎

  6. Vgl. XIII 170. ↩︎

  7. Vgl. XI 585. ↩︎

  8. Vgl. XI 586. ↩︎