Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Das Dilemma des möglichen Gottes
Die negative Philosophie ist im Ganzen hypothetische Konstruktion. Es kann nicht anders sein mit dem, was ist, als wie es die Vernunft selbst ableitet: dies ist die innere Verläßlichkeit der negativen Philosophie. Aber sie ruht eben auf der Vernunft als auf ihrer Voraussetzung. Die Vernunft kann sich selbst nicht begründen. Bleibt sie in sich, d. h., bleibt sie mit ihrem Inhalt allein befaßt, so kann sie die Frage nicht abweisen: „Warum ist denn Vernunft und nicht Unvernunft?“1
Der Gott, den sie aus sich ableitet, ist eben abgeleiteter, somit nicht wirklicher, somit nicht göttlicher Gott. Als bloße Vernunft kann sie nicht entscheiden, ob er nicht doch nur die Selbstprojektion, die Selbsthypostasierung der Vernunft darstelle. Wenn aber Vernunft ist, d. h., wenn sie sich findet, somit sich gegeben findet, dann ist Sein schlechthin ihr vorausgesetzt, ist das absolute Prius ihr vorausgesetzt und ist sie in den Rang der Zeugin und Auslegerin des Seins eingesetzt2. Ihre Konstruktion ist dann die Erhellung der Wirklichkeit, wenn diese Wirklichkeit, und das heißt: wenn Vernunft und das, wohinein sie sich faßt und vollbringt, das von ihr Abgeleitete, ihr entfalteter Inhalt, wirklich ist.
Nun hat aber in der negativen Philosophie die Konstruktion der [232] Vernunft den Status wirklicher Wirklichkeit, d. h. wirklicher Vernünftigkeit der Welt und wirklicher Entfremdung der Wirklichkeit gegenüber der Vernunft zugleich, eingeholt. Also ist sie Bewußtsein der Wirklichkeit, ist die negative Philosophie das Bewußtsein der positiven3, ist der Begriff des möglichen Gottes Begriff des wirklichen, göttlichen Gottes4.
Er ist dieser Begriff des wirklichen Gottes, aber er ist es nicht unmittelbar, sondern durch einen eigentümlichen Übersetzungsvorgang hindurch, der zugleich einen Neuanfang bedeutet: Die Vernunft muß sich dahin umkehren, nicht mit sich, nicht mit ihrem Inhalt, sondern eben mit ihrem schlechthin Anderen zu beginnen, mit dem unvordenklichen Prius ihrer selbst. Allerdings ist mit ihm zu beginnen, und das heißt eben: sich selbst, ihren Inhalt von ihm her zu begreifen und so ihm als seinen Begriff zu unterbreiten. Diese Umkehr, in welcher sie nicht von sich aus Gott begreift, sondern von Gott aus sich begreift und so gerade ihm zum Begriff seiner selbst und des ihm Möglichen wird, verändert nun sowohl den Begriff Gottes, den sie zuvor gewann, und das, womit sie und worin sie Gott begreift: die Potenzen.
Was sie zunächst als unmittelbaren Begriff dessen, was sein wird, also als den Begriff der Voraussetzung möglichen Seins, entwickelte, muß sie neu gewinnen als Begriff dessen, was diese unbedingte Voraussetzung in sich selbst ist5.
Äußerlich mag dieser Übergang der Vernunft in die ihr zur positiven Philosophie und somit zum Begriff des wirklichen Gottes erforderliche Stellung nur als begriffliche Umorientierung erscheinen. Was sie indessen von innen her notwendig werden läßt, hat entscheidend mit dem göttlichen Gott zu tun. Der Umstand, daß der in bloß hypothetischer Entwicklung der Welt ebenso hypothetisch mitgesetzte Gott erst an der Wirklichkeit der Welt, so wie sie der Ableitung entspricht, als wirklicher erwiesen werden kann, bezeichnet das eigentliche Dilemma des möglichen Gottes noch nicht.
Der „mögliche Gott“, zu dem die negative Philosophie gelangt, [233] ist in der Tat einerseits der bloß begriffene Gott, der, dem als Wesen die Unbestreitbarkeit und Unzerstörbarkeit, also sich selbst besitzende Geistigkeit zuerkannt wird, der in sich „fertige“ Gott – jener eben, der, wenn er ist, von Wesen her, notwendig er selbst und notwendig sich besitzender Geist ist; als solcher ist er das das-Seiende-seiende, und ihn hat die Trennung des Seienden von ihm durch die Selbsterhebung des aus den Potenzen des Seienden heraustretenden Ich gerade bestätigt – dies alles freilich in die Klammer des hypothetischen Charakters bloßer Vernunftkonstruktion gesetzt. Anderseits aber führt dieselbe Vernunftkonstruktion, die diesen Begriff des „Gottes am Ende“ entwickelt, zur praktischen Verwiesenheit und Hoffnung des Ich auf diesen Gott. Als bloß erhoffter Gott wäre er aber der bloß „mögliche“, die Hoffnung hofft indessen von ihrem Wesen her gerade nicht auf den möglichen, sie will und meint den wirklichen Gott.
Der Begriff des möglichen Gottes, den die Hoffnung gewinnt, ist der Begriff dieser Hoffnung nur als der des wirklichen, d. h. aber im eminenten Sinn als der des von sich her wirklichen Gottes. Positive Philosophie hat die negative also derart als ihr Bewußtsein in sich, daß sie den Umriß des Wissens der Hoffnung um sich selbst in sich hat. Sie kann diesen Umriß nicht von sich her, sondern nur von der Gewähr dieser Hoffnung her als den Begriff dessen, der die Hoffnung erfüllt, des wirklichen, göttlichen Gottes, gewinnen. Sie muß die Präsenz des Wissens ihrer Hoffnung also vereinen mit der Wegwendung von sich und von ihrem Wissen aufs Erhoffte zu. Die „Potenzen“ werden hier die Bahnen des Seins Gottes von sich her und der Offnung Gottes von sich her auf das hoffende Ich zu, Begriffe der Erfüllung der Hoffnung, Begriffe letztlich der Offenbarung und Erlösung. Ob und wie sie, ob und wie der Begriff Gottes, der in ihnen neu ansetzt in der positiven Philosophie, dies zu sein, das Dilemma des „möglichen Gottes“ also wirklich zu lösen vermögen, kann sich in der Folge erst zeigen.