Orden und Jugend im Lebensraum der Kirche

Das „Eigene“der Orden

a) Der je größere Gott

Es gibt eine unübersehbare Fülle von Gestalten und Wegen des Ordenslebens, aber in ihnen eine einzige Dynamik. Es ist die Dynamik des Deus semper maior, des immer größeren Gottes.

Daß Gott je größer ist, fährt hinein in einen Menschen und reißt ihn heraus aus den mitgebrachten Maßen und Gewohnheiten. Indem Menschen diesem Ruf des je größeren Gottes „nachlaufen“, entstehen ein Lebensweg und eine Lebensgemeinschaft neuer Prägung: ein Orden. Die Beunruhigung vom je größeren Gott, die Erfahrung, daß man, wenn Gott Gott ist, nicht nur einfach so allgemein und irgendwie ihm dienen kann: das führt aber nicht nur zum Anfang eines Ordens, sondern das steht vielleicht verborgen und indirekt, hinter jeder Profeß, hinter dem Weg eines jeden einzelnen, der sich im Orden ganz Gott weiht.

Der je größere Gott ist indessen nicht nur der je höhere, jener, dem zu folgen mehr Anbetung, mehr Ausschließlichkeit des Lebens auf ihn allein zu fordert; der je größere Gott ist, christlich betrachtet, auch der je nähere und der je weitere, jener, dessen Größe sich darin bewährt, daß keiner am [3] Rand liegenbleibt. Auch die Orden, die primär aus der Leidenschaft Jesu für den Menschen, für die Kleinen, Armen, Fernen erwachsen sind, haben hier ihre Wurzel. Der größere Gott ist der Gott der größeren Liebe. Er ist die je größere Liebe, und darum befähigt er und ruft er zur je größeren Liebe.

Wer auf Gott schaut, der wird stets neu von ihm überrascht: Gott ist je weiter innen, je weiter oben, je weiter außen – die Dimensionen wachsen gleichzeitig. Der Kontemplative umarmt in Anbetung und Fürbitte die Welt, der missionarisch, diakonisch, caritativ Wirkende lebt aus dem Herzen des Herrn, aus seiner Leidenschaft für den Vater. Der je größere Gott als die Wurzel und die Dynamik des Ordenslebens, das läßt den Ordenschristen zugleich provokatorisch „konservativ“ und provokatorisch „progressiv“ sein. Gott ist unverfügbar, er kann nie zur Disposition gestellt werden, sein Ruf hat immer den Vorrang, er muß bewahrt werden. An seinem Wort ist nichts zu deuteln. Aber gerade darum darf dieses Wort mich je weiter hinaus- und hinwegführen von dem, was gewohnt ist und was ich mir vorgestellt habe. Treue und Wagnis sind seit Abraham der Rhythmus des Glaubensweges.

Es wäre lohnend, die christliche Geschichte der Worte maius und magis, der Worte „größer“ und „mehr“ zu schreiben; die Kapitel über Augustin, Anselm und Ignatius blieben nicht die einzigen. Es wäre eine Geschichte des ganzen Ordenslebens, aber auch der ganzen Theologie, die aus geistlicher Wurzel wächst – und keine große Theologie wächst aus anderer Wurzel. Verweisen möchte ich allein auf jene merkwürdige Gedankenfigur, die uns am Anfang des Hexaemeron des heiligen Bonaventura begegnet. Er stellt hier Christus vor als die Mitte der Ethik, als jenen, der von Himmel zu Himmel dem Vater entgegenschreitet und der so die innere Dynamik des Christseins zur je größeren Vollkommenheit, zum Je-mehr entfesselt (vgl. I, 31–33).

b) Der je neue Ruf des je gegenwärtigen Herrn

Gott ist je größer, Gott sprengt alle Maße. Wie kommt es dazu, daß daraus geschichtlich Lebensgestalt, Gemeinschaftsgestalt wird? Der christliche Glaube an den „Deus semper maior“ schließt sich nicht ein in das „Es war einmal“ geschehener Offenbarung oder in das „Es wird einmal“ erhoffter Zukunft. So sehr in Jesus Christus ein für allemal dieser größere Gott sich geschenkt und gegeben hat und so unabdingbar es ist, seiner je offenen und je größeren Zukunft entgegenzugehen, so sehr ist christliches Leben doch Leben im Jetzt. Der Glaube an den Deus maior ist Mitgehen mit dem lebendigen Herrn, der selber mit der Kirche und den Menschen jeder Zeit mitgeht. Seit Ostern ist Christus der Christus Semper praesens, in ihm, durch seinen Geist erschließt sich der Deus semper maior als der [4] Deus Semper praesens. Jener, der damals Menschen gerufen hat und uns gesagt hat, wie Nachfolge geht, er ist auferstanden und lebt – und so sehr er nichts anderes will als das im Evangelium Gesagte, so muß ich mich doch selbst je neu und unabsehbar seinem Ruf und Willen bereithalten.

Nur daraus, daß Christus je Neues will, indem er stets das Eine und Selbe will, läßt sich die Gründungsgeschichte der Orden verstehen. Christus immer derselbe, jener der kam und jener der kommen wird – aber jetzt will er auf neue Weise sichtbar und wirksam werden in der Geschichte, Antwort sein auf diese bestimmte Situation, helfend, erbarmend, sammelnd, unterscheidend, versöhnend, heilend. Sein eines und selbes Evangelium wird zum je neuen Ruf, der Wege eröffnet und Menschen sammelt. So sind Orden entstanden.

Christus ruft Menschen, rührt einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen an – und darin erhält er, der Christus praesens, eine neue Weise seiner Gegenwärtigkeit in der Geschichte. Das ist das Charisma des Gründers: eine durch den Ruf des Christus praesens vermittelte und erschlossene neue Weise, wie Christus präsent bleibt und präsent wird in Menschen, die ihm folgen.

Dann aber wiederholt sich im Charisma des Gründers dieselbe Spannung wie zwischen diesem Charisma und dem Evangelium selber. Im Charisma des Gründers wird das ein für allemal gültige Evangelium, sine glossa ohne Beiwerk gelebt, zu einer neuen, überraschenden Übersetzung. In der Gemeinschaft, die er gründet, gilt es, dieses Charisma des Ursprungs wiederum sine glossa zu wahren – und seine Kraft doch darin zu bewähren, daß aus der einfältigen Treue das unkonstruierbar Neue erwächst.

c) Mut zur Mitte, Absprung nach innen

Was unterscheidet indessen die Gründung eines Ordens von einer zerfließenden oder sich in sich selber verkapselnden Schwärmerei oder mit einem in sich selbst erstarrenden Protest gegen das allzu Gewohnte und Ausgefahrene?

Der Herr ruft unberechenbare Horizonte hinaus, aber der Weg vorwärts und hinaus ist immer zugleich Weg in die Mitte. Der Gründer, erfüllt von seinem Ruf, überzeugt von seiner Sendung, weiß. gerade kraft dieses Rufes und dieser Sendung, daß der ihn ansprechende Christus kein anderer sein kann als der in der Mitte der Kirche wirkende Christus. Und so heißt für ihn Treue zu seinem Auftrag zugleich Auslieferung. Er vertraut das Samenkorn, das der Herr ihm in die Hände legt, dem Boden Gottes an, als den er die Kirche erkennt. Solche Auslieferung verläuft nicht spannungslos und glatt, aber in letzter Treue und letztem Ernst. Die Gabe Gottes bewährt sich in den Händen dessen, der Gott mehr liebt als seine Gabe und deswegen um Gottes willen auch seine Gabe zu lassen vermag. [5] Der Christus praesens ist dem Gründer und seiner Gemeinschaft der Christus in Ecclesiae, jener, der österlich seiner Kirche die Gegenwart und den. Geist für alle Tage bis zum Ende verheißen hat. Der Weg in die Weite ist Weg durch die Mitte, Strahlung ist Einkehr in den Kern.

Die Kirchlichkeit der Ordensgründung ist nicht schwächliche Fügsamkeit oder schlaue Pragmatik. Sie ist unbeirrbarer Hinblick auf den lebendigen Herrn. Darin aber wird der Mut zur Mitte zugleich zum Absprung nach innen, zur Entbindung der je eigenen Spiritualität. Wir können sagen: Es gibt im Christentum keine andere Spiritualität als die des Geistes Jesu, als jene, die sich im Evangelium verfaßt. Je eigene Spiritualität meint jedoch die Perspektive, in der auf dem eigenen Weg alles auf den Herrn hin gesehen wird. Spiritualität als die Perspektive aus der eigenen Berufung auf den Herrn hin.

In diesem einen Sinn sind alle Orden, gerade auch die aktiven, missionarischen, apostolischen, caritativen, kontemplativ: In allem Handeln und Wirken geht es darum, unverwandt auf den Herrn zu sehen, den Durchblick auf ihn zu gewinnen, im Schauen auf ihn zu handeln und zu sein.

d) „Andere“ Gemeinschaft

Orden entstehen, wo der je größere Gott ruft, wo sein Ruf in der Begegnung mit dem Christus praesens zu einem gegenwärtigen Auftrag und Wog gerinnt, wo die Antwort an ihn hineinführt in die Mitte der Kirche, hineinführt in eine verbindliche Weise des Innen, des geistlichen Lebens mit dem Herrn. Allerdings gehört noch eine weitere Dimension unabdingbar zum Orden: die Gemeinsamkeit. Da ist nicht nur ein begnadeter Mensch, der aus seiner persönlichen Christusnachfolge heraus Impulse für andere gibt, damit sie an seiner Spiritualität teilhaben und je an ihrem Ort und in ihrem Lebensbereich ähnliche Erfahrungen machen wie er sich vielleicht auch über diese Erfahrungen austauschen, aber im übrigen eben für sich und in eigener Regie weiterleben. Nur wo der Aufbruch zum Herrn Aufbruch zueinander, Aufbruch in eine Gemeinschaft hinein ist, die miteinander den einen Weg geht, entsteht etwas wie ein Orden.

Die Gemeinschaft eines Ordens hat freilich eigene Prägung, ist „andere“ Gemeinschaft. Sie ist nicht die Synchronisierung von Individuen, die um einiger sich deckender Interessen willen einen Zweckverband bilden. Sie ist vielmehr Gemeinschaft im Innersten, was Menschen gemeinsam sein kann: in der Weise, dem Ruf Gottes zu folgen und unter dem Ruf Gottes Leben zu gestalten. Wo man in einem Orden aneinander vorbeilebt, wo diese tiefste Gemeinsamkeit nicht mehr sichtbar und gesehen wird, da pervertiert Ordensleben. Aber Orden steht ebenso im Gegensatz zum Kollektiv, in welchem der einzelne nur Quantität in der Masse, nur Einzelteil in der sich selber schwingenden und funktionierenden Maschinerie [6] wäre. Das Gemeinsame ist und bleibt mein Persönlichstes, die Gemeinsamkeit des Ordens lebt von der freiesten, unerzwingbaren Entscheidung eines jeden einzelnen.

In solcher Gemeinsamkeit, für solche Gemeinsamkeit haben die evangelischen Räte konstitutive Bedeutung. In sich wären sie ebenso vom Deus semper maior oder von der Lebensgemeinschaft mit dem gegenwärtig rufenden und handelnden Herrn her oder auch vom ekklesialen Stellenwert der Orden her zu begründen. Lesen wir sie hier indessen von der neuen, anderen Gemeinsamkeit her, die für Orden konstitutiv ist. Orden ist Gemeinschaft solcher, die nichts anderes wollen als dem gegenwärtigen Herrn Antwort geben. Der Ordenschrist steht in einer bleibenden Einsamkeit mit dem Herrn allein. Das Zusammengehören im Orden ist begründet im alleinigen Gehören zum Herrn. Die Jungfräulichkeit, die vollkommene Keuschheit als Lebensform der Orden prägt nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Diskretion und Ehrfurcht, die das Zusammen der Ordensleute in aller Herzlichkeit, Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit, fordert.

Das Gehören zum Herrn allein läßt zusammengehören – und so gehört mir nichts mehr, sondern was mir gehört, gehört ihm. Und was ich brauche, das kommt mir zu aus dem Miteinander für ihn. Ein so verstandenes Armutsideal hätte viele Konsequenzen für das konkrete Leben in den Orden.

Als der zentrale Punkt geht dann aber der Gehorsam auf. Deuteln wir an diesem Wort nichts herum, lassen wir es in aller Härte stehen. Ich gehe mit anderen auf einem Weg um Gottes willen, auf einem Weg, den nicht ich mir erschlossen habe, der mir vielmehr vom rufenden Herrn zugewiesen ist, den ich aber aus dem Innersten meiner Freiheit heraus ein für allemal übernommen habe und von dorther je neu übernehme. Dann aber erhält mein Leben seine Weisung aus der Gemeinschaft in diesem Ruf. Der rufende Herr hat das Recht, mir in dem präsent und maßgeblich zu sein, der die Verantwortung trägt für die Gemeinsamkeit in diesem Ruf. Meine Freiheit ist in solchem Gehorsam nicht nur meine „Vergangenheit“, in welcher ich mich einmal ausgeliefert und verschrieben habe; sie ist nicht nur meine Zukunft, die offenbar machen wird, daß dort, wo der Herr selber alles allein bestimmt, Freiheit am freiesten ist. Meine Freiheit ist auch und vor allem Gegenwart. In der Vollendung werde ich nicht mehr zu wählen haben zwischen dem oder jenem Gut. Das unendliche, höchste Gut wird mich ganz erfüllen. In ihm wird alles mein, alles mir gut sein. Gottes Liebe wird mir alles in allem sein, und darin werde ich meine Liebe zu Gott und zu allen in Gott als vollkommene Freiheit erfahren. Wo ich Gehorsam aus Liebe, Gehorsam als Liebe lebe, nehme ich im endlichen Jetzt schon dieses ewige Jetzt der ganzen Freiheit voraus.

[7] Allerdings wird an diesem Punkt deutlich, wie wenig Gemeinsamkeit, im Orden nur auf der Zweipoligkeit Oberer – Ich, Autorität – Gehorsam aufruht. Die Querverbindung, das Aufeinanderzu, die Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit aller gehören dazu. Wie wir miteinander im selben, wie wir um desselben willen zueinander sind, wie Einheit miteinander gelebt wird, das ist die Nagelprobe darauf, daß Gehorsam nicht Pragmatik und System, sondern Leben mit dem lebendigen Herrn bedeutet.