Glaubwürdig die Botschaft Jesu Christi leben

Das „Eigentliche“

  1. Was ist das „Eigentliche“?

Warum erzähle ich diese Geschichte? Viele sagen: „Hinter dem Chorgitter ist das ‚Eigentliche‘ der Jugendarbeit. Dort müssen wir hin, überwindet das Gitter, laßt den Raum der bösen Welt! Geht ins Spirituelle, geht ins Geistliche, geht ins Liturgische, geht in die Pfarrgemeinde! Rüstet Euch zu, daß Ihr ganz tüchtige Gemeindeglieder seid, und dann ist alles gut. Amen. Alleluja!“ Das ist sozusagen die eine Position, die es gibt.

Die andere Position, die es gibt, sagt: „Das ‚Eigentliche‘ ist diesseits des Chorgitters. Da müssen wir bleiben. Hier müssen wir gestalten. Die Menschen von heute, vor allem die jungen Menschen von heute, fangen mit dem, was hinter dem Gitter stattfindet, nichts mehr an!“

Ich bin der Meinung, daß das „Eigentliche“ der Jugendarbeit auf beiden Seiten des Gitters ist. Es ist notwendig, den Jesus zu suchen, der im Raum des Verborgenen und des Geheimnisses wohnt. Es ist genauso wichtig, Jesus diesseits zu suchen, den Jesus, der in der Mitte der Welt lebt, den Jesus, der im Bruder und in der Schwester lebt, gerade in denen, die weit weg sind.

Und zwar ist das letztere nicht als ein Zusatz zum ersten wichtig, sondern als dessen innere Konsequenz. Beides hängt aneinander. Beides ist voneinander getragen. Beides erfordert Überstieg. Jugendarbeit geht nicht ohne den Überstieg übers Gitter.

Nur derjenige hat den – wenn ich so sagen darf – „mystischen“ Jesus verstanden, der auch den „sozialen“ Jesus bejaht. Und nur der wird dem „sozialen“ Jesus ganz gerecht, der auch den „mystischen“ Jesus nicht verachtet. Schwerpunkte können verschieden sein, Akzente können verschieden sein, aber grundsätzlich gehört beides zusammen, und zwar um des Menschen willen.

Der Mensch, das können wir heute sehr deutlich sehen, hat eine Sehnsucht nach etwas, was sich nicht im bloßen Funktionieren erschöpft. Warum ist mitten in der Welt von heute so viel Traum, soviel Romantik, soviel Sich-hinein-flüchten-wollen in irgendein Etwas, das sich nicht nur an harten Realitäten reibt, wie wir sie hier alltäglich erleben? Solche Ausflucht ist gefährlich. Aber sie ist nicht nur gefährlich, sondern zeigt auch an, daß wir für etwas da sind, das größer ist als wir. Wenn wir die Sehnsucht nach dem Größeren und das Größere selbst nicht sehen und nicht ernstnehmen, dann stehlen wir es einfach den Menschen.

[3] Derjenige, der größer ist als unser Alltag, derjenige, der größer ist als das, was wir funktional im Alltag und in der sozialen Aktion bewähren können, er ist zugleich derjenige, der Fleisch geworden ist, der Menschen geworden ist, der mit uns von der anderen Seite des Gitters in die Welt steigen will. Das Gitter tut in beiden Fällen weh. Es ist wichtig, diesen doppelten Überstieg zu lernen und einzuüben, für jeden einzelnen von uns und für die jungen Menschen insgesamt. Manchmal stehen wir nur am Gitter und sagen: „Warum muß es auch so hart und stachelig sein? Ginge es nicht, daß wir einfach das Gitter wegräumen?“

Aber, das Gitter bleibt, auch wenn wir es wegräumen, in uns selbst. Denn der Schritt zu dem, was nicht selbstverständlich, alltäglich, pragmatisch ist, ist immer schwierig. Der Schritt zu dem, was Bewährung in der Gesellschaft, Bewährung im Alltag ist, Bewährung in den Fragen der Zeit, ist immer schwierig. Unser eigenes Ich ist im Grunde das Gitter, über das wir immer neu hinweg steigen müssen.

Ich kann mir Sie sehr gut in der Situation vorstellen, daß Sie oft vor lauter Gitter die beiden Seiten kaum mehr sehen. Ich meine nicht, daß Sie persönlich nicht mehr durchs Gitter sehen, aber daß Sie sich bei der Hilfestellung für andere zum Überstieg wund reiben, und daß Sie sich oft ärgern, weil die einen von Ihnen sagen: „Warum hilft er denen auf die andere, die falsche Seite zu steigen?“ Ganz gleich, von welcher Seite Sie schauen.

Die oft verhängnisvolle Rede vom „Eigentlichen“ der Jugendarbeit lockt uns auf problematische Fährten. Ich sage eindeutig meine Meinung: das „Eigentliche“ katholischer und kirchlicher Jugendarbeit, verbandlicher und der ganzen Breite der von Kirche getragenen Jugendarbeit, erschöpft sich nicht darin, daß wir Leute rekrutieren, damit sie in Kirche, Gemeinde und auch gesellschaftlichen Institutionen so gut wie möglich im Sinne des Amtes in der Kirche funktionieren. Der Sinn der Jugendarbeit ist nicht Rekrutierung, ist nicht bloß die Funktionsertüchtigung, so daß wir möglichst wohlerzogene „Kirchenschafe“ haben, bei denen der Hirte schlafen kann, statt sich für das Leben der Seinen hinzugeben. Das ist nicht das „Eigentliche“. Das „Eigentliche“ der Jugendarbeit ist aber auch nicht bloß eine Vitaminspritze mit religiösen Impulsen und Inhalten für irgendwelche gesellschaftlichen oder anderen Ziele, die man verfolgen will. Es geht nicht um einen ideologischen Überbau für Aktionen und Ziele, mögen sie noch so gut und so wichtig sein. Also weder Gott funktionalisieren für den Nutzeffekt irgendeiner Leistung oder Antileistung, noch die Jugendarbeit funktionalisieren, damit sozusagen dabei ein bloßes Funktionieren im Sinn von Kirche herauskommt.

[4] 2. Das „Eigentliche“ ist: mit Jesus Christus ins Spiel kommen

Das „Eigentliche“ der kirchlichen Jugendarbeit besteht in Jesus Christus als demjenigen, in dem der Mensch sich finden kann, in dem der Mensch Gott finden kann, und in dem der Mensch die Welt finden kann. Ich meine dieses Sich-finden des Menschen nicht als einen bloßen Selbstspiegelungsprozeß, sondern in diesem Sinn: ich finde mich nur, wenn ich mehr finde als mich, wenn ich den finde, der größer ist als ich, und die anderen finde, die Welt finde. Das ist das Entscheidende.

Ich habe vor einigen Jahren einmal bei einem Regionaltag in Mönchengladbach eine Frühschicht mitgemacht. Stifte wurden ausgeteilt und jeder sollte etwas zu dem Satz schreiben: „Leben mit Jesus ist wie …“ Auf einem dieser Blätter hat gestanden: „Leben mit Jesus ist, wie wenn eine Geige den findet, der sie spielen kann.“ Dieses Wort ist mir nachgegangen. Ich hatte einige Zeit darauf bei der Aachener Domsingschule eine Predigt zu halten und habe dann ein Märchen dazu für die kleinen Jungen erfunden. Dieses Märchen möchte ich Ihnen erzählen.

„Ein König bekam öfters Besuch von einer alten Zauberin, die ihm gute Ratschläge gab und der er dafür zum Dank kostbare Geschenke machte. Nun kam sie eines Tages in den königlichen Hofsaal hinein, aber der König bemerkte sie gar nicht. Er hatte nämlich seinen liebsten Diener bei sich, einen Jungen, der wunderbar die Geige zu spielen verstand. Wenn der König traurig war, dann tröstete ihn nichts so sehr wie diese Musik. Nun war der ganze Hofstaat zusammengelaufen und alle waren so gebannt vom Spiel der Geige, daß man alles andere übersah und vergaß. Das ärgerte die Zauberin, sie trat vor den König und sagte: ‚Das sollst du büßen, eine alte Frau einfach stehenlassen.‘

Und sie verwandelte den jungen Geiger in seine Geige und verwandelte jeden Anwesenden – auch den König – in je einen Geigenbogen. Dann sagte sie: ‚Nun soll dein Musicus, der dir mehr gilt als mein Rat und meine Weisheit, den Zauber wieder lösen. Wenn er erkennt, welcher Geigenbogen der König ist, dann wirst du wieder der König sein, und alle anderen sollen auch wieder das werden, was sie zuvor waren. Wenn er dich aber nicht erkennt, dann soll jener König werden und die anderen befreien, von welchem der Geiger meint, es sei der König.‘ Die Zauberin erhoffte sich nämlich, daß so sie selber die Königskrone erhielte, denn durch ihre Zauberkünste würde sie doch wohl alle und [5] auch den König selbst auf der Geige übertrumpfen können.

So traten denn nacheinander alle Geigenbögen an die Geige heran, setzten sich auf und versuchten auf ihr jeweils das Spiel.

Die Zauberin die sich natürlich auch selber in einen Geigenbogen verwandelt hatte – mischte sich unter die anderen. Keiner wußte mehr, wer jeweils der andere war. Der König aber war so traurig, daß er ziemlich als letzter in die Reihe trat. Ein aufregendes Konzert. Alle nacheinander kamen zur Geige, und die Geige weinte, wie der eine so teilnahmslos und der andere so grob und der dritte so selbstherrlich und der vierte so lässig und der fünfte zu verspielt und verliebt in sich selber mit ihr umging – sie, eine gute, kostbare Geige, kam überhaupt nicht zum Klingen und Schwingen.

Schließlich kam jemand, der ein wahres Feuerwerk des Klanges auf ihr entfesselte. War das der König? Nein, das konnte er nicht sein. Der dieses Hexenwerk der Kunstfertigkeit vollbrachte, liebte mehr sich selbst als die Geige. Und so blieben die zarten Feinheiten, so blieb ihr lieblichster und innigster Gesang unentdeckt und stumm. Der König aber, das wußte die Geige, der liebt mich, der sucht gerade dies, was dieser Letzte da mit allem Können nicht vermochte. War keiner mehr da?

Doch, nun kam er: ein Bogen, der sich auf die Saiten setzte, ganz zart und einfühlsam und doch mit gestaltender Kraft, alles das aus ihr herausholend, was in ihr an Klang und Glanz und Fülle, an Wärme und Melodie drinsteckte. Es war mit einem Schlage klar: das ist der König!

In der Tat, er war es, das schreckliche Spiel hatte ein frohes Ende.“

Nun werden Sie sich fragen, was ich mit diesem sentimentalen Märchen meine. Es ist in der Tat so: Wir sind Instrumente, die von vielen gespielt werden. Es gibt viele Geigenbögen, die sich auf uns setzen, die probieren, aus uns etwas herauszuholen und ihre Melodie auf uns zu spielen.

Ich bin zutiefst überzeugt, daß an Jesus Christus glauben heißt: an den glauben, der die Geige gemacht hat, der diese Geige liebt und der allein sie wahrhaft spielen kann. Wenn wir uns von ihm spielen lassen, spielen wir selber uns. Dann werden wir nicht von einem anderen manipuliert, sondern wir erwachen zu uns. Wir können uns spielen und können mit ihm mehr als nur uns spielen. Darauf hat kirchliche Jugendarbeit es abgesehen. Man könnte sagen, der Ansatz ist insofern zu eng, als es ja nur darum geht, daß ich mich finde. Das ist vollkommen [6] richtig. Aber das Spiel spielt ja auch nicht nur für sich, sondern es spielt die Melodie der Welt. Es spielt die anderen und für die anderen. Ich kann nie nur mich spielen, sondern ich spiele immer auch etwas anderes. Es ist sehr wichtig, daß junge Menschen inmitten aller ideologischen und anderen Verfremdungen, aller Erfahrungen und Ängste ausgebeutet und ausgenutzt zu werden, mißbraucht zu werden, nicht gebraucht und geschätzt zu werden, den entdecken, der sie erschaffen hat, der sie annimmt, und daß sie so das Leben spielen lernen, daß sie erkennen: Er ist es.

Dabei gibt es zwei Ansatzpunkte: entweder wir fangen bei der Melodie an, beim Spielen und erkennen dann langsam, er ist‘s, und dann treffen wir persönlich unsere Entscheidung für ihn. Oder wir kennen ihn bereits, aber wir müssen noch lernen mit ihm so umzugehen, daß wirklich wir als wir selber und mit allem, was dazugehört, ins Spiel kommen. Beide Richtungen sind möglich, in gewissem Sinn sogar notwendig. Wenn wir über die Melodie zu Jesus finden, dann ist das nicht so, daß wir sagen: „Aha, also doch auf ihn zu.“ Nicht so, sondern in dieser wirklichen Kommunion mit ihm, in der ich ganz und gar ich bin und die anderen sie sind. Und es kann der Fall sein, daß wir „fromm“ ansetzen, daß wir bei diesem frommen Ansetzen aber den Überstieg lernen in die Welt und unsere Melodie in die Welt einspielen, damit die Welt an ihr Hoffnung und Zukunft findet, indem wir uns ganz in die Melodie und mit ihr in die Welt hinein geben.