Der Ruf nach Klarheit und Offenheit

Das Endgültige und Verbindliche in der Glaubenslehre

Aber: sind es in der Tat so schwerwiegende Unterschiede, die zwischen der wirklich verbindlichen Glaubenslehre der Kirche und der wirklich vorgetragenen Lehre von Professor Küng bestehen? Könnten nicht um des großen Gutes willen, daß Professor Küng für viele eine Schneise in das Dickicht der Schwierigkeiten mit Religion und Christentum schlägt, nicht ein paar kühne – im Sinne des obengebrauchten Bildes – „Verstiegenheiten“ in Kauf genommen werden? Er sagt doch, daß er Jesus Christus als Sohn Gottes und Wort Gottes anerkennt, er sagt doch, daß die Kirche trotz möglicher Irrtümer in der Wahrheit von Gott gehalten werde, er sagt doch, daß er auch dem Papst einen Seelsorgeprimat in der Kirche zuerkenne, er sagt doch, daß es gültige Festlegungen der Offenbarungswahrheit durch die Kirche geben könne. Gültige – aber nicht eigentlich endgültige. An diesem Punkt berühren wir wohl den Kern. Das andere, was Spannungen und Schwierigkeiten zwischen Küng und der verbindlichen Lehre der Kirche ergibt, läßt sich von hier aus erklären.

Nun, dies sieht aber doch wirklich aus wie Theologengezänk, wie Kleinlichkeit! Und ist doch das Gegenteil. Machen wir uns die Mühe, ein wenig genauer über diesen Punkt nachzudenken. Wir werden dann den Anliegen von Professor Küng, wir werden aber auch der Glaubenslehre der Kirche mehr Verständnis entgegenbringen können. Gottes Wahrheit ist immer größer als menschliche Worte. Auch wenn Gott selber in der Offenbarung zu uns spricht, muß er, um sich verständlich zu machen, menschliche Worte dafür in Anspruch nehmen. Und sie sind wie ein Gefäß, das nie ganz die göttliche Fülle faßt. Trotzdem ist Gottes Wahrheit in diesen Worten, aber Gottes Wahrheit ist eben noch größer.

Nun aber hat uns Jesus Christus verkündet, daß Gottes Herrschaft, Gottes Reich herangerückt ist. In seinem Kreuz und Auferstehen bricht Gottes Herrschaft, wenn auch verborgen, an. Mitten in dieser endlichen Welt ist das Endgültige, ist Gott am Werk, handelt Gott, [412] schenkt uns Gott Kontakt mit sich selbst. Mehr noch, er gibt sich selber ganz und gar hinein in unsere Geschichte, in unser Leben. Dieser Jesus Christus ist nicht nur ein Mensch, der zur Würde des Gottessohnes erhoben ist, er ist das Innerste und Eigenste Gottes selbst, sein einziger, lieber Sohn, den er für uns hingibt. Das ist der Mensch: einer, der Gott seinen eigenen Sohn wert ist. Das ist Gott, einer, der sich selber hingibt und einsetzt für uns. Um diese ganze göttliche und menschliche Wirklichkeit in Jesus Christus hat die alte Kirche wie um nichts anderes gerungen. Ihr Bekenntnis ist und bleibt der geistgewirkte Ausdruck kirchlichen Glaubens. Weitere Übersetzung, weitere Auslegung und Ausfaltung des Dogmas ist selbstverständlich möglich und erforderlich – aber in solcher Entfaltung und Vertiefung bleibt das Dogma selbst über die Zeiten hinweg verbindlich, es kann nie revidiert werden; so haben es die Gläubigen von Anfang an verstanden.

Gerade dieser Charakter des Dogmas aber ist dann gefährdet, wenn die Möglichkeit endgültiger Aussagen über Gott in Frage gezogen wird. Wenn dies geschieht, dann kann es allerdings auch keine Instanzen geben, die durch den Beistand des Heiligen Geistes vor Irrtum bewahrt werden, wenn sie auf endgültige Weise eine Wahrheit als von Gott geoffenbart feststellen und der Kirche zu glauben vorlegen. Darum geht es bei der sogenannten „Unfehlbarkeit“ in der Kirche, deren Organe der Papst als oberster Lehrer der Christenheit und das Konzil bei feierlichen Definitionen und die einmütig mit dem Papst lehrenden Bischöfe in ihrer ordentlichen Verkündigung des Glaubens sind. Diese letzte Garantie, daß Gottes endgültig uns geschenktes Wort als untrügliche Grundlage unseres Glaubens durch die Geschichte durchgetragen wird, ist alles eher als ein Punkt der Macht und des Prestiges. Es ist eine Bedingung der durch unsere menschliche Armseligkeit nicht mehr zerstörbaren Klarheit und Reinheit des Ja, das Gott ein für allemal zu uns in Jesus Christus gesprochen hat. Noch soviel Irrtum, noch soviel Fehler können in der Kirche sein; wo sie sich in letzter Verbindlichkeit einwurzelt in Gottes Wort als die Grundlage ihres Glaubens, da ist Gottes Geist stärker als all unser menschliches Fehlen- und Irrenkönnen.