Aachen 1986 – eine Botschaft?
Das Geheimnis der Heiligtümer
Daß alte Tücher, in denen die Überlieferung Erinnerungen an Grundgestalten und Grundereignisse des Neuen Testaments wahrnimmt, ungezählte Menschen, gerade junge Menschen, bewegen und faszinieren können, muß zu denken geben. Stundenlang standen sie an, um an diese Zeichen heranzukommen, und um 23 Uhr war Abend für Abend der Dom überfüllt, als man die Komplet betete und die Heiligtümer in den Schrein barg.
Was war da, was zog in diesen Heiligtümern an, was war ihr Geheimnis? Die Frage der historischen Echtheit spielte keine entscheidende Rolle. In der Tat wäre für einen Menschen von heute der Satz, auch wenn er erwiesen wäre, nur bedingt interessant: „Dieses ist das Kleid, das Maria während ihrer Schwangerschaft getragen hat.“ Aber ein anderer Satz, ein Satz mit einem weit geringeren Anspruch, trifft und bewegt mehr: „Ein solches Kleid hat Maria getragen, ein solches Stück Stoff war das einzige und letzte, was Jesus am Kreuz noch besaß“.
Die Nähe des Geheimnisses, das Eingelassensein des Geheimnisses in unsere Welt, die „Ortung“ des Geheimnisses in der Gewöhnlichkeit unseres Alltags, das kann aufgehen in diesem Zeichen – und somit wächst der Mut zu einer neuen Kommunika-[43]tion mit diesem Geheimnis. Das sind Grundelemente in jenem meist nicht reflektierten, aber darum keineswegs weniger dichten Erfahren, das sich bei der Heiligtumsfahrt für viele erschlossen hat.
Was zunächst merkwürdig und fast widersinnig erscheint, erhält hier eine tiefere Bedeutung: die Alltäglichkeit, schier Banalität, der Gegenstände, die da als Heiligtümer verehrt werden. Und nichts könnte uns tiefer in diesen Zusammenklang des Alltäglichen mit dem Entzogenen, der Nähe mit der Verborgenheit, der Berührbarkeit mit der Unberührbarkeit des Geheimnisses hineinziehen als gerade das Gewand. Wer das Gewand berührt, der greift nicht das Geheimnis, das sich hinter diesem Gewand birgt – und kommt doch in Kontakt mit ihm. Er selber ist angerührt von diesem Geheimnis – und gibt es doch frei, ahnt und achtet, daß es größer ist als das, was er in Händen haben kann.