Spiritualität und Gemeinschaft

Das Geheimnis der verschlossenen Tür

Haben wir uns nicht – entgegen unserem eigenen Vorhaben – im Verlauf unserer Besinnung doch wieder in eine abstrakte, verschlossene Objektivität zurückgezogen? Haben wir nicht doch wieder eine Theorie aufgebaut, der das eine, das Gesuchte indessen fehlt: die Tür, um einzutreten, um den Weg zu finden, den ich gehen kann der wirklich weiterführt? Und was nützt solches Verständnis, solche Hermeneutik, wenn ich in der alltäglichen Begegnung mit Kirche und Glaube ständig die gegenteilige Erfahrung mache: Heute geschlossen! Zutritt verboten!

Es wäre schlimm, sich hermeneutisch oder spirituell aus den wirklichen Nöten, den wirklichen Schwierigkeiten, an den wirklichen Barrieren vorbei in einen schönen Schein hinwegzustehlen. Doch mit ein paar Reformen, mit neuen Methoden allein wäre es keineswegs getan. Wir müssen uns dem stellen: Es gibt die verschlossenen Türen. Sie würden auch dann bleiben, wenn die Kirche sich von Grund auf reformiert hätte, wenn die Strukturen der Gesellschaft und des Lebens gebessert, wenn die Methoden der Selbstfindung und der Kommunikation aufs perfekteste entwickelt wären. Es bleibt der Widerstand der [86] Wirklichkeit, die Begrenzung aller Möglichkeit, die Endlichkeit zumal unseres eigenen Selbst. Auch der menschgewordene Sohn Gottes ist an diese verschlossenen Türen gestoßen, aber er ist vor ihnen nicht umgekehrt.

In unserem Sprechen von Trinität und Menschwerdung und Kirche haben wir zumal gesprochen von dieser Erfahrung Jesu vor der verschlossenen Tür. Die Ablehnung von seiten derer, zu denen er gesandt war, der ratlose Rückzug der Jünger, das Ringen mit dem fremden, übermächtigen Willen des Vaters, das Leiden, in dem alle Sinnlosigkeit, Schuld und Abgründigkeit menschlicher Existenz sich zusammenballte zur Last, die ihm allein aufgebürdet wurde, schließlich die Erfahrung des Abgeschnittenseins, des Verlassenseins vom Vater, für den allein er lebte: das ist schlechthin die verschlossene Tür. Jesus schritt hindurch, wenngleich er äußerlich an ihr zerschellte. Er schritt hindurch zum Vater, an dessen Willen er auch in der letzten Weglosigkeit festhielt. Und darin wurde offenbar: Gerade im Kreuz tut Gott den radikalsten, den göttlichsten ersten Schritt auf uns zu. Der Vater gibt seinen einzigen, geliebten Sohn für uns hin, der Sohn gibt sich für uns hin, und in dieser äußersten Liebe tritt er ein in seine und unsere Herrlichkeit. Sterbend gibt er uns seinen Geist, damit wir in diesem Geist Gemeinschaft mit Gott und Gemeinschaft miteinander haben.

Hier liegt nicht nur die Antwort der Botschaft, hier liegt auch die Lösung für unseren Vollzug. Woher rühren denn die Engführungen und Irrwege einer Spiritualität, die nicht zur Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, die nicht zur Spiritualität durchstößt? Sich festmachen in bloßen Objektivitäten, sich zurückziehen ins System, sich beschränken auf Methoden, das Selbst retten durch den [87] Kompromiß: neigen wir zu all dem nicht letztlich deshalb, weil wir Angst haben vor dem Kreuz, umkehren vor dem Kreuz? Der Schritt wahrhaft über uns hinaus führt immer wieder an die Grenze, an die Mauer. Er führt in die befremdliche Unfaßbarkeit des Geheimnisses Gottes, er führt in die Unverfügbarkeit und Unbekanntheit des menschlichen Du, er führt zumal an die Grenze der eigenen Kraft und der eigenen Sicht. Es geht nicht! – so müssen wir beinahe immer sagen, wenn es wirklich ernst wird gegenüber Gott, gegenüber dem Nächsten und mit uns selbst. Es geht nicht! Einzig der Schritt Jesu durch die verschlossene Tür findet und bahnt den Weg. Der Geist wird nur dort frei, Gemeinschaft wird nur dort gestiftet, wo wir mit Jesus, dem am Kreuz von Gott und den Menschen Verlassenen, die Mauer durchbrechen und dabei die Grenze als Grenze erfahren. Die Bedingung für Geist und Gemeinschaft, für Spiritualität und Communio ist das Kreuz. Hier erst geschieht wahrhaft Beziehung. Nur wer verliert, der findet; wer bewahren will, der verliert. Nur das Samenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, bringt Frucht (vgl. Joh 12,24f.). An dieser Stelle entscheidet sich, ob ich bloß mich selber suche und deswegen auch bloß mich selber finde und mit mir allein bleibe oder ob Überschritt, Leben, Gleichzeitigkeit der Ursprünge gelingt.