Macht und Ohnmacht des Wortes

Das Geheimnis des Wortes

Nun aber stellt sich eine merkwürdige Frage. Was bringt unser Reden in eine solche Struktur, daß wir uns zur Sprache bringen, indem wir die Sache zur Sprache bringen, und daß wir, indem wir die Sache zur Sprache bringen, eben auch uns zur Sprache bringen? Ich als ich komme zur Gegebenheit, indem ich eine Aussage darüber mache, mich als Stätte der Aussage darüber verstehe, wie es wirklich ist. Es ist etwas im Spiel, was mich und die Sache so zusammenbringt und zusammengehören läßt, daß ich ich nur bin, indem ich die Sache zur Geltung bringe, und die Sache als die Sache aufgeht, indem sie sich mir gibt und in meine Synthesis, in mein Aussagen-Können hineingibt. Es ist etwas im Spiel, was die Beziehung trägt und stiftet zwischen mir und den Sachverhalten und was mich darin zu mir selber bestimmt. Denn wenn ich nicht einer wäre, der möglicher Zeuge und Verherrlicher dessen ist, wie es ist, dann wäre ich nicht Ich.

Nur dadurch, daß ich dafür einstehen kann, wie es ist, und daß ich dadurch für mehr als bloß mich einstehe, bin ich tatsächlich ich selbst. Das ist mein [96] Unterschied zu einem Tonband, das ist mein Unterschied zu einem bloß reagierenden Wesen, das ist meine Menschlichkeit.

Was aber läßt mich und die Sache in mir und in ihr zusammengehören, was waltet „zwischen“ ihr und mir?

Diese Frage soll zunächst einmal als Frage stehenbleiben. Daß sie aufbricht, daß sie ins Wort kommt, muß uns indessen zu denken geben. Ich kann von dem und jenem sprechen, von dem, was heute geschieht, davon, wie morgen das Wetter sein wird; aber ich trete plötzlich in eine andere Schicht oder Richtung meines Sagens, wenn ich davon spreche, was es eigentlich ausmache, daß ich und die Sache zusammengehören. Daß ich ich bin, indem ich nicht nur ich bin, sondern alles mir zugehört und angehört, alles in mir aufgeht. Es ist eine betroffene, staunende Frage: Was ist dies, daß ich so bin und daß alles so ist? Sie fragt nicht nach dem oder jenem, sondern nach mir und der Welt in einem und nach dem, was Ich und Welt zueinander- und so zutage bringt. In dieser staunenden verwundernden – ich möchte sagen: verdankenden – Frage kommt etwas wie Verherrlichung in einem neuen, höheren Sinn ins Spiel. Ich verherrliche in dieser Frage etwas, was ich nennen darf: das Geheimnis, das Unsägliche, das eben, von dem sich nicht ohne weiteres so sprechen läßt wie von allem anderen.

Man könnte an das, was ich eben gesagt habe, die Frage stellen: Stimmt das? Trifft das? Geht das so und nur so? Müßte man das nicht viel nüchterner, viel weniger geheimnisvoll, viel banaler, einfacher zur Sprache bringen? Wenn Sie diese Frage stellen, dann tun Sie es aus Verantwortung, aus der Wahrhaftigkeit, nichts sagen, glauben, denken zu wollen, was nicht „so ist“. Sie fragen sich: Ist das eine Überinterpretation, eine Mystifizierung – oder muß es wirklich so verstanden und gedeutet werden? Sie sprechen aus einer Verantwortung, die sich so verbalisieren läßt: Sagt nur er dies alles, dieses einzelne Ich, das so eben konstruiert ist, oder: ist es von sich aus so? Es geht uns in unserem Sagen kraft seiner immanenten Dynamik darum, zu sagen, wie es von sich her ist.

Gerade wenn wir in Frage stellen und bezweifeln, was ich eben ausgeführt habe, hat dies zum Stachel und Maß die unbedingte Verantwortlichkeit. Es ist nicht nur formal unausweichlich, daß ich und das, wie es ist, zusammengehören; sondern dieses Zusammengehören betrifft mich als unerbittlicher Anspruch, der mich zu mir macht und doch unendlich größer ist als ich.

Ich kann nicht nur äußerlich und formal dem nicht ausweichen, daß mein Sagen beansprucht, zutage zu bringen, was ist und wie es ist; sondern ich bin darin in meiner Würde, ich komme darin in meinem Innersten ins Spiel. Daß ich der Wahrheit die Ehre geben soll, ist eine Bestimmung, die von sich selbst her die Würde eines unbedingten Anspruchs hat. Ich soll der Wahr- [97] heit die Ehre geben, sie zum Scheinen, zur doxa, zur Geltung bringen, soll nichts anderes zur Geltung bringen als sie.

Ich bringe, indem ich spreche, faktisch andauernd etwas zur Geltung. Ich lasse etwas aufgehen, ich lasse etwas sein und scheinen, ich verherrliche etwas. Wir geben immer etwas „die Ehre“. Denn von dem, was wir reden, bestimmt sich ja, was zwischen uns sichtbar und thematisch wird. Die Welt erschöpft sich nicht im Umherstehen aller möglichen Kulissenbilder, sondern die Welt ist das, was wir von ihr zwischen uns, indem wir sprechen – und unser Handeln impliziert ein solches deutendes Sprechen –, zur Geltung bringen.

Der Mensch ist ein Wesen, das spricht und verantwortlich handelt oder zumindest sein Handeln zu verantworten hat. Das heißt: Er ist einer, der andauernd etwas zum Anscheinen, Aufscheinen, Gelten, Strahlen bringt; und dabei steht er unter dem Anspruch: Es ist nicht egal, was du zum Aufscheinen bringst, sondern du hast, was immer du zum Aufscheinen und zur Geltung bringst, der Wahrheit die Ehre zu geben. Der Wahrheit, die mich zu mir macht und die das, was ist, zu dem macht, was es ist, und die die Welt zu dem macht, was sie ist, indem sie sich zwischen uns ereignet. Wahrheit im Sinn eines nicht nur konstatierenden Resultates, sondern Wahrheit im aktiven Sinn dessen, was gewährt und in Anspruch nimmt, kommt also ins Spiel.

Und ich meine, daß wir – so abgekürzt die Hinführung dazu hier geschehen muß – uns nicht jenem „heiligen Erschrecken“ entziehen können, das die veritas, die Wahrheit selbst, anbeten heißt, die von einem Augustinus verherrlicht wurde (vgl. etwa Confessiones VII, 10, 16). Am Rande unseres Sagens bricht jene Übermacht auf, die uns bewegt und berührt, die uns zu dem macht, was wir sind, alles zu dem macht, was es ist und uns in Pflicht nimmt, in eine heilige unverletzliche Pflicht.