Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Das Geschaffene – das Andere Gottes und die Erscheinung Gottes

Was nun ist, im Verhältnis zu Gott und zu den Potenzen, das Andere, das aus dem frei von Gott gewirkten Prozeß der Potenzen entsteht? Schelling gibt dazu gegenläufige Auskünfte.

Er sagt, daß, „wenn das Erzeugnis dieser Potenzen die Welt ist, auch die Welt nicht Wesen, sondern nur Erscheinung, wiewohl eine göttlich gesetzte Erscheinung ist“1. Eine andere Aussage verschärft dies noch: „Gott geht in der Schöpfung zwar über sein unvordenkliches Sein hinaus, aber er hält das gesamte, damit entstandene Sein in sich beschlossen. Soweit ist die Immanenz der Dinge in Gott schlechterdings zu behaupten.“2 Hingegen ist freilich die gegenwärtige Welt, ihr „Außer- und Nebeneinandersein“, Produkt unserer Freiheit und nicht Gottes Schöpfung3.

Gleichwohl ist es ihm, durchaus im selben Zug des Gedankens, darum zu tun, „eine Schöpfung, durch die etwas entsteht, was zuvor schlechterdings nicht war“, zu denken4.

Beide Thesen weisen in denselben Anlaß zurück: Gott soll als der frei zu seinem Andern hin Seiende und doch darin Alleinige gedacht werden, als zugleich der „Andere“ und „alles in allem“. Doch, wie schon angedeutet, erlegt das Mittel, mit welchem Schelling sein Anliegen denkerisch durchführt, seinem Gedanken eine doppelte Grenze auf: Indem das Andere aus den Potenzen, aus seiner Möglichkeit her, verstanden wird, kommt es nicht los von seiner Verhaftung in den Ursprung und kommt es doch nur durch die Trennung von diesem Ursprung wahrhaft zu sich, zu seiner Freiheit.

Das „Reelle“ in den Potenzen „ist noch immer das Göttliche, das, was an ihnen das nicht Göttliche ist, oder das, wodurch sie (bloße) Potenzen sind, ist das bloß Accessorische, ist nicht Wesen, sondern nur Erscheinungsweise“5 und darum ist das aus ihnen Entstehende selbst in seiner Andersheit nur „Erscheinung“. Gewiß läßt sich diese Aussage so verstehen, daß die Andersheit des Anderen keinen Abbruch erfährt: Andersheit des Anderen heißt in der Tat ja nicht Beziehungslosigkeit, Sein neben dem Ursprung, dies gerade nicht, sondern Sich-Gegebensein vom Ursprung, in welchem er sich bezeugt und selber gibt und also „erscheint“.

Dieses Sich-Gegebensein des Anderen bleibt indessen unfrei im Gebenden verschlossen, wo die Potenzen als die constituentia der Andersheit als solcher gedeutet sind. Und so deutet sie Schelling. Wenn etwas entstehen soll, das zuvor nicht war, so kann man sich nach seinem Gedanken „die Schöpfung nicht aus einer – unendlichen Kausalität erklären. Eine eigentliche, nämlich auch den Stoff hervorbringende Schöpfung ist ohne eine Mehrheit von Ursachen nicht zu denken6.

Schelling beschreibt den Prozeß wie folgt: „Indem er nämlich als der bloß an sich Seiende durch seinen bloßen Willen sich zum außer sich Seienden macht, so macht er sich eben damit zum bloßen Stoff oder Vor-Anfang der Schöpfung.“7 Mit Stoff ist hier freilich nicht [275] die äußerliche Materie, sondern jene „Urstofflichkeit“ des urständlichen unbestimmten Gedankens für jeden Etwas-Gedanken gemeint, die uns in der Betrachtung des Subjekts oder Seinkönnenden auf den Ebenen reinen Denkens und negativer Philosophie beschäftigte. Die göttlich gewollte Erhebung des An-sich zum Außersich, der Entschluß Gottes, das am An-sich als möglich ersehene Andere – und so die immanente Dynamik des An-sich, des Subjektes aus sich heraus – sich zu überlassen, bezeichnet Schelling den Anfang der Schöpfung.

Der weitere Gang des Prozesses verläuft in den uns vertrauten Bahnen: die außer sich gekommene, „expansiv“ gewordene, so stoffgebende Phantasie des Gedankens wird benutzt durchs rein Seiende als causa efficiens, aufs Seinsollende als causa finalis zu. Das so Entstehende ist nicht mehr der voranfängliche „Stoff“, denn es ist ja zugleich von der zweiten Potenz auf die Erscheinung der dritten in ihm zu geprägt. Es ist „keine“ von den Potenzen, sondern etwas Neues, und doch ist nichts in ihm, was nicht von ihnen stammt. „Reell“ ist nichts anderes als sie, und doch ist dasselbe ein neues Mal, welches neue Mal im Menschen die ganze Realität der Potenzen einholt, alles Etwas und sie und Gott selbst zum Bewußtsein und somit ins Ziel führt; denn es geht Gott bei der Schöpfung darum, „ein Bewußtsein seiner selbst außer sich zu setzen8. Das so erklärte Andere ist in dem Sinn und Maß das Andere Gottes, wie der bestimmte Gedanke eines Etwas, den ein Denkender bejahend setzt, das Andere seiner ist. Um es angesichts des entscheidenden und abschließenden Falles, des „geschaffenen Gottes“, des Menschen also, zu sagen: der ursprüngliche Mensch ist in dem Sinn und Maß das Andere Gottes, wie ein von ihm „gemachter“ Mensch, ein vom Menschen ins Denkenkönnen hineingedachter und hineingesetzter Mensch sein „Partner“ wäre. Nur wenn dieser „homunculus“ sich zu sich selbst erheben und vom Menschen losreißen könnte, um „von sich her und weg“ auf ihn zuzugehen, wäre er dem überhoben, daß der Mensch in ihm doch nur sich, seine Alleinigkeit vollbrächte, nur durch seine Bestreitung des Menschen ginge seine Partnerschaft mit dem Menschen auf.

In solcher Richtung denkt Schelling: Er will die Partnerschaft des Menschen zu Gott als das von Gott Gewollte denken. Er denkt in diesem Zuge aber die Entstehung des Etwas und des Selbstbesitzes, der Geistigkeit als Voll-endung des Etwas aus den Potenzen, und das heißt: aus den Wirkmächten der Möglichkeit Gottes heraus. Als ihr und somit, kraft seines veranlassenden Wollens, sein Gewirk kommt das Entstandene nicht über den Status der „Reproduktion“ Gottes, kommt damit aber auch Gott nicht über den Status seiner Alleinigkeit hinaus.

„Nur Gott“ ist, indem das Geschöpf, zuhöchst der Mensch, „das Andere Gottes“ ist. Dies machte den Menschen jedoch für sich selbst mit Gott verwechselbar, Er wird, als der gewordene, reproduzierte Gott, zum Wesen des möglichen Atheismus. Dieser klärt sich, nach der hypothetischen Entwicklung der negativen Philosophie, die wir kennen, nur durch den wirklichen Atheismus hindurch: hier wird am Ende offenbar, daß der Mensch des wirklichen Gottes bedarf.

Die positive Philosophie versucht nun, diesen wirklichen Gott der wirklichen Beziehung, den Herrn und das Heil, den Partner der wirklichen Andersheit des Menschen und so diese selbst zu denken. Sie reduziert ihren Gedanken aber in der bezeichneten Weise selbst wieder auf den Begriff des Anderen aus seiner Möglichkeit und der es aus ihr erwirkenden Kräfte, verbirgt die Andersheit des Anderen so in die Bedingungen seiner Erklärbarkeit und subsumiert sie darin doch wieder de facto in die Alleinigkeit seines Ursprungs.

Schelling hat Anlaß zu sehen, daß Selbstsein Etwassein einschließt, daß es Macht und Vermögen des Etwas, Ermöglichung und Sammlung des Etwas, daß es also Selbstgehörigkeit, Selbstgegenständlichkeit, Geistigkeit als ihm wesentlich einbegreifen muß. Verhältnis zum Etwas, also Negation des Aufgehens im Etwas und Position der Beziehung zum Etwas, sind dem etwas denkenden, sich objektivierenden Denken die Marken des Selbstseins, die Weise seiner Präsenz in der bleibenden Entzogenheit, Sofern Selbstsein „etwas“ ist, d. h. die Integration allen Etwas in der es vermögenden Freiheit zum „Wesen“ hat, sofern also der Raum des Selbstseins die Geistigkeit ist, und umgekehrt: sofern alles Etwas Vorläufigkeit des Geistes, Anlauf auf Geistigkeit hin ist, von der her es allein zu verstehen und also „etwas“ ist, hat [277] Schellings Gedanke recht: Dem „etwas“ denkenden Gedanken ist, was immer ist, Ausfaltung und Erscheinung jener Geistigkeit, die er Gott als Wesen zuerkennen muß, wenn Gott ihm etwas heißen soll, und ist alles, was ist, doch als je einzelner, definiter Gehalt zugleich das „Neue“, zuvor nicht Dagewesene. Das Verhältnis des geschaffenen Etwas zum „göttlichen“ Etwas, zur omnitudo realitatis, ist das des bestimmten etwas denkenden Gedankens zum allem Etwasgedanken vorlaufenden Denken schlechthin.

Gleichwohl entgeht dem Gedanken der Personalität, der von der Geistigkeit als Wesen her ansetzt, Entscheidendes: Die Person selbst, besser: das „Ich bin“ selbst ist gerade nicht ein anderer Fall desselben Wesens, das seinen ersten, fundamentalen Fall in Gott hat, der aus seinem totalen und apriorischen Besitzen dieses Wesens den anderen Fall herauszubringen vermag. Freiheit als Verhältnis zur eigenen Möglichkeit ist nicht jene Freiheit, die Du zu sagen mächtig ist, so sehr sie als menschliche der ersteren bedarf, um vorzukommen in die Welt des Etwas, in der sie als Freiheit aber nie selbst etwas, nie zwingend festzustellen und zu erklären ist.

Auch wo dies in Anschlag gebracht wird, bleibt die Verwechselbarkeit des Menschen für sich selbst mit Gott bestehen, Der Mensch ist das Wesen des möglichen Atheismus, der Gott des möglichen Atheismus aber ist gerade nicht der lebendige, anredend-meinende, unbegreiflich aufgehende, sondern der Gott nach dem Bilde des Menschen, der aus dem Sich-selbst-Begreifen des Menschen her erklärliche und so als Projektion des Menschen erklärte Gott.

Das Wesen des möglichen Atheismus ist der Mensch von seinem „Wesen“ her. Von seinem Was, von der allumgreifenden Geistigkeit her ist er „dasselbe“ wie Gott. Diese „Selbigkeit“ ist Raum der Übereinkunft mit Gott, ist Weg des Dusagens zu ihm und Denk-Mal des konstitutiven göttlichen Dusagens zum Menschen, Weg der Freiheit, der ihren Gang, der das Angehen und Angegangensein gerade nicht erzwingt. So aber ist er auch als das eigene „Anwesen“ erstehbar, als Raum der Alleinigkeit des Menschen. Dieses versteht sich darin aber nicht mehr als „Weg“, nicht mehr aufs Du und vom Du her, sondern vom Etwas, vom Wesen der Geistigkeit als Etwas her. Das diesem Verständnis seiner selbst dem Menschen entspringende und entsprechende Verständnis Gottes ist das ge- [278] zeichnete: das Bild des Gottes eines möglichen Atheismus, des die Geistigkeit als sein Wesen „seienden“ Gottes. Der „wirkliche“ Atheismus ist nur gegenüber diesem vom Menschen entworfenen Gott und im Bezug auf ihn „notwendig“ vermittelnder Durchgang zum Erkennen der unaufhebbaren Verwiesenheit des Menschen auf den wirklichen Gott. Der Gott, der die Andersheit seines Anderen vermag, der nicht nur etwas kann, sondern Du sagen kann, auf daß du seist, auf daß ich bin, und den ich nur im verdankenden Du verstehe, macht nicht die sich erhebende Sonderung des „Ich bin“ notwendig, damit er aufgehe und Gott sei.

Schelling gewahrt die Grenze seines Gedankens der Andersheit des Geschaffenen Gott gegenüber. „Die bis jetzt“ (d. h. im Urstand vor dem Fall des Menschen) „begriffene Schöpfung ist durchaus nur eine immanente, innergöttliche, die nachher gegen die menschlich gesetzte wirklich ideal wird.“9 Er bemerkt, daß er das freie „Ich bin“ des Menschen, die andere Andersheit des Geschaffenen nicht durch seinen Gedanken der Schöpfung eingeholt hat. Der Vollzug des bin“ kann ihm aus seinem Ansatz her nicht die ursprüngliche Antwort, sondern kann nur durch den ursprünglichen Protest hindurch Antwort sein aufs göttliche: Sei!


  1. XIII 280. ↩︎

  2. XIII 353. ↩︎

  3. XIII 353/54. ↩︎

  4. XIII 346. ↩︎

  5. XIII 280. ↩︎

  6. XIII 346. ↩︎

  7. XIII 346; s. zum Ganzen XIII 346/48. ↩︎

  8. XIII 304. ↩︎

  9. XIII 353. ↩︎