Antworten zum Fragekatalog für das Projekt „Judentum im katholischen Religionsunterricht“

Das Hauptgebot der Liebe*

1. Gerade im Verbindenden zwischen Juden und Christen wird oft auch das Unterscheidende gesehen, z. B. im Hauptgebot der Liebe, in der Erwartung des Reiches Gottes, im Gebet zu Gott dem Vater: In welchem sprachlogischen Modell lassen sich Gemeinsames und Unterscheidendes nach ihrer Meinung fassen?

Im Blick auf die genannten Felder (Hauptgebot der Liebe, Erwartung des Reiches Gottes, Gebet zu Gott dem Vater) dürfen wir den „Unterschied in der Einheit“, die „gemeinsam zu tragende Differenz als Gemeinsamkeit“, so lokalisieren: Im selben Vollzug hat Gott seinen je verschiedenen Ort. Jüdisch steht Gott selbst als der zuerst Handelnde, der Gebietende und Erfüllende über dem Lieben des Menschen; im Christentum steht er durch Jesus und seinen Geist zugleich im Lieben des Menschen. In der Erwartung des Reiches Gottes ist es jüdisch der Mensch, der das kommende Reich erwartet; christlich ist es Gott selbst in uns, der – da Jesus in unserer Mitte ist (vgl. Mt 18,20) und Gottes Geist ausgegossen ist in unsere Herzen (vgl. Röm 5,5) – mit uns das Kommen seines Reiches erwartet. Im Gebet zu Gott dem Vater ist es jüdisch der Mensch, der auf Antrieb Gottes und in seinem Licht zum Vater betet, und ist es christlich der Geist des Sohnes, der in unseren Herzen „Abba, lieber Vater“ ruft (vgl. Röm 8,15; Gal 4,6). Dies ist zurückzulesen auf das vorgeschlagene Unterscheidungsmodell, das die Worte Aufbruch – Anbruch signalisieren.

2. Für Juden besitzen die Tora, der Staat Israel, der „Holocaust von Auschwitz“ Heilsbedeutsamkeit (als Heilsgabe, als Erfüllung der Landverheißung, als neues Golgota): In welchem Sinn kann christliche Theologie, für die einzig Jesus Christus das Heil und der Heilsweg ist, zu dieser Aussage positiv Stellung nehmen?

Die Einzigkeit Jesu als Heilsweg bedeutet für den Christen, daß Jesus alles, was Gottes Gabe ist, in seinem Geben mitgibt, und alles, was unsere Last ist, in seiner Last mitträgt. Jesus eignet so eine einschließliche, alles umfassende Ausschließlichkeit. Die indirekte Teilnahme des Jüdischen am Christlichen – dies müßte noch genauer durchdacht werden – könnte als Partizipation der Verheißungsgestalt des Christus (Judentum) an der Wirkgestalt des Christus (Christentum) verstanden werden. Der Text der Römischen Bischofssynode von 1971 zum Priestertum in Nr. 9 (2) bietet hier mehr Ansätze, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es wäre freilich notwendig, das qualitative Anders und [149] Mehr des Judentums als ausdrücklicher Verheißungsgestalt herauszustellen gegenüber den Religionen der Menschheit als Gestalten des Versuchs und der Sehnsucht.

Sicher ist Jesus Christus gemäß christlichem Glauben der einzige Heilsweg für alle. Aber Jesus Christus ist Heilsweg, indem er in seinem einen Menschenschicksal mit allem Menschenschicksal kommuniziert hat. Jesu Kommunion mit dem Glauben und der Geschichte Israels und zumal mit der Leidensgeschichte seines Volkes, seine Übernahme alles Leidens und Sterbens der Menschheit signalisieren den Punkt, an dem der spezifische und ausschließliche christliche Heilsweg, Jesus Christus selbst, das in sich selbst aufnimmt und mit dem in innere Berührung kommt, was jüdisch heilsbedeutsam ist: Wandel nach der Tora, konkretes Glauben an Gottes Verheißung, wie es sich jüdisch zumal in der Liebe zum Land der Verheißung bekundet, Annahme des Leidensschicksals aus der Hand Gottes. Gerade auf dem letzteren liegt in christlicher Sicht der besondere Akzent.

3. Die Theologie spricht von der einzigartigen Beziehung zwischen Judentum und Christentum: Worin sehen Sie die theologische Relevanz des gegenwärtigen Judentums für die Kirche und der Kirche für das gegenwärtige Judentum?

Das gegenwärtige Judentum hat für das Christentum und für die Kirche insbesondere eine zweifache Funktion: (1) Der geschichtliche Ursprung geht mit, er bleibt nahe, ist die lebendige Erinnerung der christlichen Herkunft und das kritische Geleit der Gegenwart, um diese Herkunft nicht zu vergessen. (2) Das gegenwärtige Judentum als noch auf einem anderen Weg ist nach Röm 9–11 die Marke des „Noch nicht“, das Ausrufezeichen des noch nicht Eingelösten von Verheißung, der Stachel, auf dem Weg der Völkerwallfahrt zum Zion zu bleiben. Also: (1) bleibende Protologie und (2) „eschatologischer Vorbehalt“.

4. Welche Rolle spielen für Sie Unterscheidungen wie orthodoxes, liberales, säkularisiertes Judentum bei der Charakterisierung des heutigen Judentums durch die christliche Theologie?

Natürlich ist die Verbindung mit dem Judentum für den Christen dort am stärksten, wo der Jahweglaube und die Treue zu den Grundlinien der Tora ungebrochen und unmittelbar lebendig sind. Wo, christlich verfremdet gesagt, Gesetz Gesetz und Propheten Propheten bleiben, wo die Psalmen nicht Poesien, sondern Gebete sind. Daß es hierbei die Spielart des mehr Buchstäblichen und die Spielart der „freieren“ Übersetzung ins jeweils Verständliche gibt, ist demgegenüber ein zweitrangiges Problem. Zum anderen ist aber auch Israel als Volk für den Christen von bleibender Bedeutung; seine Existenz ist vom Ursprung an Zeugnis des Handelns Jahwes, Zeugnis des Glaubens an ihn, Zeugnis des Bundes. Auch das säkularisierteste Judentum kann daher dem Christen nicht gleichgültig werden.