Das Heilige und das Denken
Das Heilige und das Heil
Im Zuge philosophischer Besinnung eröffnete sich der Unterschied des Heiligen vom Sein. Ihm zugeordnet, ja Stätte der Unterscheidung zwischen Heiligem und Sein ist der Unterschied zwischen sich weggebend, antwortend vollzogener Anrede und philosophischer Besinnung. Ihr Letztes ist also, sich über sich hinaus, von sich weg gerufen zu wissen in ihr Anderes. In diesem Anderen verläßt das Denken sich und verläßt sich mit dem Denken zugleich das, es im Ernste seiner selbst, vollziehende Ich selbst.
Der Besinnung und Anrede des Heiligen zugleich freigebende Augenblick stellte das Denken in die Frage: Was ist geschehen? Als betroffene Frage ist sie zugleich und anfänglich schon die Frage: Was ist mir geschehen? Das Ich selbst ist im Betroffenen, sich verdankenden Denken also wesenhaft impliziert. Doch wofern der Stoß dieses Betreffens sich ins Geh wandte, wofern der Vollzug des Denkens als Denken, wofern also die Besinnung in Gang kam, war das Ich selbst in diesen Gang hineingenommen: das Geh vereinigt das Denken mit sich und so das Ich selbst mit seinem Denken.
Anders das direkt meinende Komm. Das Denken von sich wegrufend trennt es das Denken von sich und so von allem und so auch vom Ich und darin das denkende Ich von sich selbst. Gewiß gibt es die höchste und lauterste Ichvergessenheit im Hingerissensein von der rufenden Übermacht des Heiligen. Doch diese Ichvergessenheit ist gerade der Vollzug des Ich selbst in seiner Hingabe. Sie unterscheidet sich von der im Vollzug des Denkens als Denken möglichen Ichvergessenheit: Hier ist das Ich in die ihm zugehörige Geräumigkeit des ihm und zugleich von ihm gezeitigten Denkens, in sein Eigenes also hineingewandt; dort, beim Hingerissensein ins Heilige, ist das Ich hingegen nicht hineingetaucht ins Eigene, sondern in der eigentlichen Ek-stase, die es von sich wegstellt, indem sie es aus sich herausstellt in sein Anderes, das als Anderes, Angerufenes, Überwältigendes seinen Unterschied gerade in der einenden Hingabe gegenwärtigt.
[77] Die Grundsituation der Erfahrung des Heiligen ist also der Anruf des Ich selbst. Dieser Anruf als solcher, der Ruf zum Komm trifft ins Geh. Er ist der Besinnung noch zugänglich, expliziert ihr das Sich-Geschehensein des Denkens, dem es sich und sie sich verdankt. Die Besinnung verfehlte freilich diesen Anruf, wenn sie bedenkend sich in ihm aufhielte; er hat seine Wahrheit nur im wirklichen Kommen, in welches sie als bloße Besinnung sich aufgegeben hat und in welchem nie nur das Denken kommt, sondern ich komme.
An dieser Schwelle philosophischer Besinnung aufs Heilige zu ihrem Anderen, in welchem das Heilige ihr erst wahrhaft heilig, an der sie erst vollends Phänomenologie des Heiligen wird, gewahrt das Denken sein Äußerstes:
Es ist (und das heißt also ich bin) in die Entscheidung gerufen, in den Vollzug der geschehenden „Trennung“. Eine neue Differenz tut sich auf: die Differenz des Heiligen, des Geh und des Komm in der Zeitigung des Denkens, offenbart sich als Differenz des Heils.
Was heißt das? Indem das Denken nicht mehr nur Unterschied und Bezug des Seins und des Heiligen, des Stoßes ins Geh und des Zuges ins Komm wahrnimmt, sondern sich anschickt, das Komm ernst zu nehmen, ihm zu folgen, schwindet das Gleichgewicht von Geh und Komm. Es nützt nichts mehr festzustellen, daß ich nur als sein-gelassen gemeint, nur als mir gelassen über mich hinaus gerufen sein, nur denkend mein Denken aufgeben kann. Das Komm fordert das Denken und fordert mich ganz, erhält darin ein unendliches Übergewicht.
Wozu ich gerufen bin, ist doch gerade nichts mehr aus dem Denken sich Ergebendes, sondern das es gebende und darin von mir selbst zu gebende und so mich gebende Kommen selbst, die Bereitschaft, angesichts des mich, das Denken, das Sein und alles mir erst gewährenden Geschenkes dieses loszulassen aufs gewährende Geheimnis zu. Denken hat in sich, ich habe in mir kein Recht und kein Pfand und keine Sicherheit gegenüber dem Anspruch [78] des Heiligen. Vor seiner zeitigenden Macht habe ich nur das Nichts niederzulegen, das ich aus mir und das das Denken aus mir und aus sich selber ist. Die Trennung, die im Komm geschieht, muß auch seitens der Antwort vollzogen werden, so erst wird Anbetung – sie ist das in der Direktheit zum Heiligen einzig Gedurfte und Geschuldete, das Einzige, dem das Heilige in Wahrheit heilig ist.
Doch auch, daß das Heilige ihr heilig ist, fällt noch zu Boden. Indem sie alles und das anbetende Ich selbst dem Heiligen überläßt, nimmt dieses auch sich selbst noch zurück und an sich: nicht mehr das Denken und das Heilige, sondern ich selbst vor dem lebendigen Gott, Er selbst, Du allein. Wenn hier, in der Anbetung, der Name des lebendigen Gottes verlautet, wenn hier das „Du“ in den Abgrund des Heiligen hineingerufen wird – Anbetung geschieht indessen auch, wo Du und Gott nicht mehr gesagt, sondern nur im eigenen Nicht alles Seins und Selbst und Denkens verschwiegen und darin getan werden –, so geschieht in solchem Ruf gerade das Gegenteil alles vorstellenden Denkens, welches das Heilige vergegenständlicht, und sei es: zur unendlichen Person oder zum „ens realissimum“1 vergegenständlicht, Gottheit als ein Prädikat versteht.
Die Anbetung, der Eintritt ins Komm mit dem Nichts des Denkens und Seins aber ist fürs anbetende Denken, fürs anbetende Ich-selbst totale Gefährdung. Die Weggabe des gedurften Geh ins alles und es selbst einfordernde Komm steht in der Not ums Heil. Es ist nicht im vorhinein fordernd oder verrechnend auszumachen, ob der trennende Ruf ins Komm „neue Schöpfung“, neues Geh, neue Gewähr des Geh im Komm sei, ob er mich mit mir, dem Sein, dem Denken, mit allem erlösend einen werde. Denn mein „Ich komme!“ ist nicht zu verrechnen mit dem es fordernden Komm, mein Vollzug kann seiner Entsprechung zum Ruf nicht aus sich selbst sicher sein, ich vermag das angebetete Du nicht mit mir und meiner Anbetung einzuholen.
[79] Daß der Weg dieses „Kommens“, daß die alles dem Heiligen anheimstellende, in die letzte Ungesichertheit ausliefernde Hingabe das Gegenteil von Verzweiflung, daß sie die Hoffnung des Heiles ist, weiß die philosophische Besinnung nicht mehr aus sich selbst. Die letzten Worte ihrer Phänomeno-Logie wenden sie um in die anbetende Bitte, da sie aus der Kraft des Denkens kein Sich-Zeigen ihrer Sache und so kein eigenes Wort mehr vermag. Sie lauten:
„Zeig uns Dein Angesicht, und wir sind heil!“ (Ps 80,4.20)
und: „Sag meiner Seele: Dein Heil bin Ich!“ (Ps 35,3)
-
Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft B 604 / A 576; B 633 / A 605. ↩︎