Das Heilige und das Denken
Das Heilige und das Sein
Wenn das Denken von der Frage an sich selbst begleitet werden können muß, damit es sich helles Denken sei, so ist nochmals eine grundsätzliche Frage zu stellen angesichts des Augenblickes, in dem das anfängliche Beschenktsein des Denkens mit sich selbst in den Vollzug des Denkens eingebrochen ist. Dieser Augenblick hat sich dem Denken selbst in eine Frage hinein artikuliert: Was ist geschehen? Es ist auf einmal alles anders!
Und nun die Frage, die an diese Frage zu stellen bleibt: Ist sie in der Tat nicht anders als auf den Aufgang des heiligen Geheimnisses hin zu verstehen? Ist dieser Aufgang das von ihr, wenn nicht zwingend, so doch eindeutig Bezeugte?
Genau besehen, sind es zwei Wege, die sich dem Denken in seiner betroffenen Frage: „Was ist geschehen?“ eröffnen, sofern es sich nicht aus dem alles wandelnden und doch nichts bestandhaft verändernden Augenblick in den alten Gang überschauenden Folgerns und Sicherns zurückzieht.
Die Frage: Was ist geschehen? verbietet eine bescheidwissende Antwort, sie schließt sich nicht in einer endlichen Auskunft; denn das Geschehene, das in dem die Frage entbindenden Augenblick Eintreffende ist nicht Etwas, sondern das nicht mehr gegenständlich oder abstrahierend fixierbare Ereignis der dem Denken sein Denken allererst zudenkenden Gewähr.
Die Frage: Was ist geschehen? ist Frage der Betroffenheit des Denkens. Diesem bleibt indessen in der Verwandlung seines Fassens durchs fassungslose Staunen hindurch zum Verdanken, in der neuen Eindeutigkeit seines verdankenden Vollzuges gleichwohl der Spielraum zweier entgegengesetzter, allerdings je miteinander verschränkter Möglichkeiten.
Die Betroffenheit des Denkens vermag das Denken ins Andersgewordensein hinein oder übers andersgewordene Alles hinaus [63] dem es Betreffenden zuzuwenden. Verdanken kann als Staunen, Staunen kann als Verdanken geschehen. Im ersten Falle wächst aus dem Denken und als das Denken die Besinnung, im zweiten der Ruf, die Anrede. Die Besinnung artikuliert die Erfahrung des Seins, die Anrede hingegen unmittelbar die Erfahrung des Heiligen – beide Erfahrungen sind Erfahrungen des Denkens und aufeinander bezogen, füreinander durchlässig.
Das so erst verkürzt Vorgezeichnete soll nun sich entfalten, an sich selbst zum Vorschein kommen:
Daß etwas und nicht nur etwas, sondern das alles Etwas Übersteigende geschehen und daß so alles anders geworden ist, tritt in den Blick des Denkens und reißt ihm zwei Differenzen auf.
Einmal ist es die Differenz des Seins zum Seienden: Am Seienden, an seinem Bestand und den ihn bemeisternden Kategorien des Denkens hat sich nichts verändert, und doch ist alles auf eine neue Weise das, was es ist, heißt und wiegt das „ist“ etwas anderes als zuvor. Dieses Heißen und Wiegen, die Stimmung und der Sinn, die dieses „ist“ durchwalten, schließen sich aber nicht in einem einzelnen oder auch in allem „ist“ – alles, von dem das „ist“ ausgesagt werden kann, ist im Ganzen diesem Sinn und dieser Stimmung inne und erschöpft sie doch nicht. Das in seinen neuen Sinn und seine neue Stimmung gezeitigte Sein wird so als Sein, wird in seiner Differenz zum Seienden allererst offenbar. Darin zugleich aber wird das Sein offenbar als je „geschichtlich“. Indem das „ist“ jetzt anders klingt als zuvor, bricht in solch neuem Klang nicht nur das Sein überhaupt auf, es bricht auch der Unterschied seines neuen Klanges zu dem verklungenen, es bricht die Geschichtlichkeit der Weisen auf, in denen das Sein sich gibt.1 Sein ist im Seienden offenbar und entzogen, offenbar und entzogen aber auch in der vom Sein selbst gewährten Weise seines Sich-Zeigens.
Vom Denken her gesagt: Es ist nicht denkbar, alle Gedanken, die [64] denkbar sind, auszudenken, und dies nicht um der quantitativen Unmöglichkeit solchen Ausdenkens willen, sondern deswegen, weil mit solchem Ausdenken nur eine Weise des Denkens vollbracht, weil der im Denken dieses ermächtigende Anspruch so auf nur eine Weise vernommen wäre; und gerade darin bestätigt sich, daß er vom Denken unbeschadet seiner Universalität und Totalität nur auf je eine Weise vernommen werden kann. Die Bestimmtheit, mit der sich und die in sich das Denken übernimmt, indem es sich mit sich beschenkt und beladen findet, bestimmt das Denken als solches und im Ganzen, bestimmt es aber in seine je geschichtliche Weise hinein. Eine Summierung dieser geschichtlichen Grundbestimmungen des Denkens zu einem Gesamt ist nicht möglich; denn sie löste sich ab von der stimmend sich zudenkenden Mächtigkeit des Seins, vom es ins Denken zeitigenden Ereignis. Gleichwohl durchstimmt die geschichtliche Grundstimmung des Seins und Denkens je alles und läßt in sich selbst sogar die anderen universalen Grundstimmungen des Seins erscheinen; die Gegenwart ihrer Vielfalt ist gleichwohl Gegenwart in dieser einen Gestimmtheit, selbst geschichtliche, nicht zeitlose Geschichtlichkeit.
Das Sein selbst ist, weil in seinen das Denken je bestimmenden Sinn hinein gezeitigt, nie ins bloße Da zu bringen, je im Da zugleich verborgen und ausständig. Die Differenz des Seins zum Seienden enthüllt in sich selbst zugleich die Differenz der geschichtlichen Grundweisen des Seins. Das anfängliche und durchgängige Gezeitigtsein des Denkens und des Seins ins Denken ist im Denken je nur da in der selbst gezeitigten Weise, in der das Denken sich und alles und das Sein selbst übernimmt; der anfängliche Augenblick, der das Denken mit sich belehnt, blickt das Denken nicht anders als in dem je geschichtlichen Augenblick an, der es zu je diesem, zu je solchem Denken macht. Nur als „dieses“, nur als „solches“ Denken ist es Denken, gerade als geschichtliches Denken, in der verdankenden und im Verdanken sich bescheidenden Übernahme seiner selbst also, tritt es in seinen wesenhaften Rang, ist es wahrhaft Denken.
[65] Sein ist beim Denken da als die unverfügbare, sich in ihre je eine Grundstimmung zeitigende Vielfalt und so als die uneinholbare Entzogenheit seiner selbst, es ist da als die Unselbstverständlichkeit seines Daseins beim Denken, in welcher es dieses ins Staunen, in die fragende Besinnung, in die Philosophie ruft.
Vielfalt, die sich nicht summieren läßt, die je nur eine Weise ihrer selbst entfaltet und in diese eine Weise doch auch je sich selbst einbringt, ist Dasein und Entzug der Einheit in einem. Wird diese Einheit des Seins als „Prinzip“ gedacht, im Denken gesetzt oder doch vorausgesetzt und in seine Entfaltung hinein abgeleitet, so ist das aus dem Augenblick der Betroffenheit Vernommene wiederum subsumiert unter das vorstellende, bemächtigende Denken: Sein als die sich und in sich ihre Alleinigkeit vollziehende Subjektivität. Wird diese Einheit des Seins in der Vielfalt seiner Zueignung an sich selbst freigegeben, bleibt sie das Verdankte des Denkens, so erinnert sie hingegen in sich, im Sein selbst, das Gespräch.
Das Gespräch ist eines nicht als deduzierbar aus einem Prinzip, sondern eins, indem es sich begibt, es begibt sich nur in der je unversehenen Wendung seiner selbst, sie begibt sich aus dem freien Zueinander von Wort und Antwort, von Partner und Partner. Die Einheit des Gesprächs wächst aus den Partnern und ist doch über ihnen, sie führt das Gespräch, indem sie es miteinander führen, sie müssen diese Einheit einander schenken, und doch schenkt sie darin zuvor und zuhöchst ihnen sich selbst und ihr Miteinander, sie ist da nur, indem sie nicht „fertig“ ist, ihnen inständig und ausständig zugleich: Sein die Einheit des Gesprächs, welches das Denken, seiner Zeitigung inne, selber ist.
Ist das Denken also Gespräch, das sich in und aus der Einheit des Seins vollbringt und so diese selbst vollbringt, so geschieht es auf doppelter Ebene: einmal ist es das Gespräch, welches die verschiedenen Grundweisen, wie das Sein sich geschichtlich – epochal verschieden zeitigt, miteinander, miteinander aber je nur in einer dieser Grundweisen führen; zum anderen das Gespräch, das aus einer gemeinsamen und doch je eigenen und einmaligen Betroffen- [66] heit vom Selben die Denkenden einer Epoche führen und als das sich diese Epoche selbst heraufführt.
Doch nicht ums Miteinander der Epochen oder der Epoche des Denkens ist es an dieser Stelle der Überlegung zu tun, sondern um den Unterschied zwischen der Einheit eines sich entwickelnden und alles in sich befassenden Prinzips von Sein oder Geist und der Einheit des Seins, wie sie im Modell des Gespräches aufscheint: Einheit eines aus der Zeitigung schlechthin sich öffnenden und nur in selbst je gezeitigter Übernahme währenden Zusammenhanges, der nicht mehr verfügbar und vorstellbar, der nicht mehr auszudenken ist, sondern nur der andenkenden Treue sich zudenkt, die sich in ihm und d. h. im Wunder seines unselbstverständlichen Gewährtseins hält.
Sein als der alles ins Gespräch greifende und in ihm je neu sich bildende, in solchem Wandel gleichwohl nicht von den Partnern des Gespräches gemachte, sondern ihnen, auf sie zu, sich eröffnende Horizont: dies ist die Landschaft, der gezeitigte, selbst zeithafte Raum, in den der Augenblick, der alles anders werden läßt, den Vollzug des Denkens führt.
Doch: ist dies der einzige Weg, den der alles verwandelnde Augenblick dem Denken eröffnet? Alles ist auf einmal anders, was ist geschehen? Diese Frage läßt nicht nur die Besinnung zu, die im verweilenden Hinblick fragend sich in die neue Landschaft hineinwendet, als die das Sein sich ihr auftat. Gewiß, solche Hinwendung zum Eröffneten und Gewährten, zur Gabe und ihrer Unselbstverständlichkeit ist Dank, den so das Denken und als den so das Denken sich selbst abstattet. Doch nicht nur in sich und sein Gewährtsein hinein ruft die Gabe; ihre Zeitigung, ihr Ereignis rufen zugleich über sich hinaus.
Die Frage: Was ist geschehen? hat beide Richtungen: die Richtung hinein in das in solchem Geschehen anders Gewordene, in die neue Stimmung und den neuen Sinn des Seins und so in dieses selbst; und die Richtung von sich selbst und vom Geschehenen hinweg ins „Nirgends“, aus dem sein Geschehen betreffend sich [67] zukommt, in dem es keinen Aufenthalt mehr gibt, zu dem nicht mehr besinnendes Verweilen führt, sondern das nur noch verweisende Sich-Ereignen des Denkens im sich loslassenden, anredenden Ruf.
Was ist mir geschehen? klingt nun wie das: „Großes tat an mir der Mächtige!“ oder, als Abbruch allen Klanges, wie der wortlose Schrecken im Erscheinen des Engels (vgl. Lk 1,49 und etwa Mt 28,4.).
Das Denken wird inne, im betreffenden Stoß des Geschehens, in welchem es sich selbst geschieht, gemeint zu sein, und dieses Gemeintsein, seine Direktheit rufen es in den selbst direkten, positiv über sich hinausreichenden Vollzug von Ruf und Anrede. Hier bricht die zweite Differenz auf, die in der Situation der Frage: Was ist mir geschehen? beschlossen liegt: die Differenz des Heiligen.
Das Geschehen der Zeitigung zeitigt das Denken, spricht zu ihm: Sei! Denke! Das Denken soll und darf denken. Indem es sich gezeitigt, sich gegeben ist, ist das Sein selbst ihm gezeitigt und eröffnet, sein alles durchstimmendes, sich zugleich lichtendes und verbergendes Walten. Wie sollte es solcher Zeitigung anders danken, wie anders ihr entsprechen als dadurch, daß es sich und in sich das Sein vollzieht, daß es in Besinnung und Frage dem innebleibt und mit dem mitgeht, was sich ihm wies? Besinnung ist das Denken, das sich auf die Weise des Denkens verdankt.
Doch der Dank blickt nicht nur auf seine Gabe, verdankt sich nicht nur in der Freude an ihr, er legt die Gabe zugleich hinweg und blickt ins Antlitz des Gebers, wendet sich in die Richtung der Gewähr. Es gibt also auch einen Dank des Denkens, der denkend das Nicht-mehr-Denken vollzieht. Denn in dem zeitigenden Stoß und Ruf des: Sei! Denke! geschieht nicht nur der Stoß und Ruf ins Sein und Denken, es geschieht darin zugleich die meinende Anrede, die durchs Vollziehen von Sein und Denken nicht erschöpft und beantwortet wird.
[68] Geheiß und Geschenk tragen solche Zweiheit wesenhaft in sich selbst, eine den Geheißenen oder Beschenkten in seinen gesollten oder gedurften Gang bringende Richtung auf ihn zu über ihn hinaus, und eine zweite Richtung auf ihn zu genau bis zu ihm hin, ein: Du!, das sich nicht mehr im heißenden und lassenden: Geh! erschöpft, sondern den angestoßenen Vollzug umkehrt, von sich weg wendet in die Unmittelbarkeit zum Anredenden; Richtung, die nicht ins Geh!, sondern ins: Komm! mündet. Beide Richtungen gehören zusammen: Das bloß ins „Komm!“ rufende Meinen des Andern, das ihn „nicht gehen“ läßt, nicht sich selbst überläßt, müßte ihn vernichten, höbe sein Kommen selbst auf, ein bloßes Ihn-Lassen, ein „Geh!“ müßte ihn verlassen in die Fremde der Einsamkeit. Das Denken, das betroffen gewahrt: Was ist mir geschehen? und so sich selbst als sich geschehen bewahrt, ist gerufen ins „Geh!“, in den denkenden Vollzug seiner selbst; doch die Betroffenheit des Vollzuges von seiner ihn zeitigenden Zuweisung, seine ihn ermächtigende und zugleich ihn bescheidende Herkünftigkeit, die sich in seinem Dürfen und Sollen ihm bekundet, sind dem Denken der Ruf ins „Komm!“, d. h. in die das Denken und Sein loslassende reine Rückwendung, in den Vollzug der lauteren Aufgabe über sich hinaus, ins antwortende Meinen.
Das Lassen, von dem hier die Rede ist, unterscheidet sich von der früher bemerkten Qualität lassenden Denkens nochmals: lassendes Denken war ein zu-lassendes, sich dem Zukommenden überlassendes, einräumendes Denken. Diese Bewegung wird jetzt gesteigert in ihre Radikalität und Positivität: Denken läßt sich, heißt jetzt: es gibt sich über sich hinaus, von sich weg, in die Richtung, aus der es zu sich und in die es selbst so gerufen ist.
Enthüllt sich hier indessen, in Ruf und Anrede herüber und hinüber, das Heilige nicht als dasselbe wie das Sein, als Einheit des Gespräches? Und doch, dies spricht gegen solche Gleichsetzung, tritt Gespräch in wesentlich anderer Stellung in den Blick als zuvor, im Falle des sich in seine Vielfalt im Denken gebenden Seins: Dort spiegelte die zeithafte Geräumigkeit, die sich ereignende, nicht zu [69] konstruierende Einheit der Partner im Gespräch die Einheit des Seins in der Vielfalt seiner je geschichtlichen Weisen. Hier ist es, als schmelze die einende Geräumigkeit des Gespräches hinweg in die bloße Polarität des Rufes, der meinend betrifft und anzieht, der das Denken ins Gegenüber und darin gerade über sich hinaus, von sich wegruft. Die Räumlichkeit, die von solcher zeitigenden Bewegung eröffnet wird, ist im Vollzug vergessen. Hier ist das Denken sich nur treu, indem es sein Gegenteil tut, indem es vergißt: alles vergißt außer seinem Gemeintsein, außer dem Polarisiertsein aufs rufende Geheimnis hin. Und noch der Ausdruck dieses „Polarisiertseins“ ist zu „räumlich“ für die reine Intensität des Gegenüber, in welchem das rufende Geheimnis sich hält, indem es zu sich ruft, für das Zugleich seiner Unberührtheit mit seinem betreffenden Anziehen, für die letzte Bedrohtheit und erst Gewährtheit, die im Innewerden des anfänglichen Gemeintseins das Denken angehen.
In solchem Angegangensein schmilzt dem Denken nicht nur die Geräumigkeit des Seins, das Denken selbst als die ihm selbige Geräumigkeit schmilzt hinweg ins Nirgends, in den unfaßlichen Abgrund des „Ich selbst“ – dieses ist in solcher Stellung freilich das Gegenteil sowohl des transzendentalen Ego als auch einer beziehungslos vereinzelten Innerlichkeit, vielmehr: das gemeinte angeredete Du des anredenden, meinenden Heiligen. „Das Denken“ kann die Erfahrung des Heiligen nicht machen, sosehr sie Erfahrung des Denkens ist; das Denken wird zum je meinigen, zum Vollzug der Hingabe des in ihr allein „an sich“ zur „Gegebenheit“ kommenden Selbst. Hier erst erreicht die Betroffenheit des Denkens sich selbst, die in der Frage: Was ist mir geschehen? aufbrach. Das Denken, das sich widerfährt, gerinnt in solchem Dativ zum – nicht vereinzelten, aber einmaligen – Selbstsein.
Die Aussage, die Zeitigung des Denkens als solche sei ihm der Aufgang des Heiligen, differenziert sich also:
Die Zeitigung des Denkens, auf daß es denke, sich übernehme, ist der Aufgang des Seins, der dem Denken gezeitigten und je neu sich zeitigenden Be-Stimmung des Seins und im Sein. Die Zeiti- [70] gung des Denkens, auf daß es sich lasse, sich lassend sein in seiner Zeitigung impliziertes Gemeintsein beantworte, das im Stoß ins Sein es aus ihm in seine Unselbstverständlichkeit zurückziehende Implikat seines Gemeintseins selbst, sein Werden zum Ich selbst in der geforderten Aufgabe des Ich selbst: dies ist dem Denken der Aufgang des Heiligen.
Wie aber verhalten sich in derselben Zeitigung des Denkens der Aufgang des Seins und der Aufgang des Heiligen zueinander?
Indem das Denken sein soll und darf (Sein soll und darf), schwingt in seiner Besinnung insgeheim das es Meinende, sein Ruf. Die das Gemeintsein beantwortende, aufgreifende Anrede verbirgt sich, wie schon früher gezeigt, in die Gestalt der Frage.
Die Offenheit des Seins fürs Heilige macht aber das Heilige gerade nicht zu einem aus dem Sein Errechenbaren oder Sicherbaren. Das Heilige ist nicht die Vergegenständlichung des im Staunen gewahrten Woher der zeitigenden Gewähr des Denkens, nicht das Weiterreden des Denkens, wo es verstummt. Was ist dieses Woher, was ist diese Gewähr? Auf solche Frage gibt die selbst fragende, im Sein inständige Besinnung gerade keine Auskunft. Sie zieht sich nicht ratlos zurück, sie weiß um die Ungemäßheit aller nur gedachten Antworten, weiß als sich verdankende um den Verweischarakter ihres Verstummens, weiß aber auch, daß dieses Verstummen nur dann in den Ruf und in seine zu allem Fassen und Besinnen andere Weise des Sagens aufbricht, wenn sie ihren Vollzug ins äußerste Sich-Lassen und somit in eine andere Richtung gibt.
Umgekehrt ist aber auch der sich in den Ruf gebende Abstoß des Denkens von sich selbst, seine zur getanen, nicht mehr aussagenden Antwort sich lassende Betroffenheit, seine Auslieferung an das es meinende Geheimnis, seine Kontraktion zum Ich-selbst in der Selbsthingabe ein Vollzug des Denkens, ja dieser Abstoß ist das Denken selbst, indem es sich preisgibt.
Was ist mir geschehen! birgt hier die Frage in den Ruf, in die Anrede. Das Komm impliziert das Geh, die Erfahrung des Heiligen [71] die in ihr und ihrer Intensität wegschmelzende Erfahrung der Geräumigkeit des Seins. Ohne die Bewegung des gewährenden Freigebens, die das Denken sein und dem Denken das Sein läßt, könnte das Denken ja gar nicht an sich selbst gemeint und gerufen sein, nur auf dem Weg seines Seins und Denkens begegnet ihm und betrifft es die im Sein und Denken verborgene Anrede. Folgt es ihr, so läßt es diesen seinen Weg des Sich-Vollziehens und Sich-Gehörens, und doch ist der Ruf, der das Denken meint, und der Ruf, zu dem das Denken wird, eingefärbt in den Klang und in die Stimmung des Seins, seiner Gestalt nach geprägt aus der geschichtlichen Weise, wie das Sein sich dem Denken und wie das Sein das Denken sich selbst überläßt. Jede Gestalt der Erfahrung des Heiligen ist Gestalt im Sein und in seinem je geschichtlichen Horizont.
Die Erfahrung des Heiligen kennt kein reines, zeitloses An-sich, sondern je nur die Konkretheit, in der sie sich vom Heiligen ereilt und gemeint findet. Daß gerade ich, ich gerade so, hier und jetzt gemeint und gerufen bin, ist das Unselbstverständliche, dem heiligen Geheimnis Inkommensurable; doch geht das Geheimnis erst in solcher Inkommensurabilität als heilig auf. Unter der Anrede vom Heiligen her läßt der Betroffene sein Ich, Hier und Jetzt, läßt er Sein und Denken im Ganzen, wendet sich von ihnen weg – und trägt sie so gerade in seine Antwort, in seine Erfahrung des Heiligen.
Der Erfahrung des Heiligen eignet so eine Weise der „Seinsvergessenheit“, die der anderen Seinsvergessenheit, der des bloß verfügenden und fassenden Umgangs mit dem Seienden und den formalen Abläufen des Denkens, genau entgegengesetzt ist. Das Sein wird in der Erfahrung des Heiligen vollzogen, aber es wird nicht als solches thematisch.
Auch in Epochen des Denkens, die das Sein als solches in die Gestalten des vorstellend-fassenden Umgangs mit dem Seienden hinein vergessen haben, ist daher der Vollzug der Erfahrung des Heiligen nicht notwendig abgeschnitten. Seine Gestalt teilt alsdann zwar die der epochalen Seinsvergessenheit, verstellt zumeist gar [72] das Heilige als solches in deren Medien – und doch vermag das Heilige auch in solcher Inkommensurabilität noch sich rein und mächtig, als unberührbar berührend dem Vollzug und im Vollzug zu bezeugen.
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Es sei hier an Martin Heideggers fundamentalen Gedanken der „Seinsgeschichte“ erinnert. Vgl. besonders Heidegger, Martin: Nietzsche, Bd. II, Pfullingen 1961; dazu Pöggeler, Otto: Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963, 100–142. ↩︎