Das Heilige und das Denken

Das Heilige und die Transzendentalien

Die Verschiedenheit und Verbundenheit des Heiligen und des Seins zeigt sich in der ihre Pole gleichwohl ineinander implizierenden Differenz der sein-lassenden und der meinend-anredenden, zu sich rufenden Komponente im einen Geschehen der Zeitigung.

Das Verhältnis des sich verschränkenden Zugleich von Verschiedenheit und Verbundenheit erinnert an das verwandte Verhältnis zwischen dem Sein und seinen mit ihm identischen und dennoch nicht aus ihm ableitbaren ersten „Antlitzen“, als welche zumal die scholastische Philosophie die transzendentalen Bestimmungen (res, unum, aliud, verum, bonum – hinzuzufügen wäre das bezeichnenderweise erst im geschichtlichen Nachtrag ausdrücklich hinzugenommene – pulchrum, in dem das Sein als das Betreffende, Staunenlassende, in diesem Sinne sich Ereignende hervortritt)1 verstand.

Sie sind Landschaften, die eine jede den ganzen Raum dessen einnehmen, was ist und sein kann, doch jeweils so, daß dieses Viele, das ist, in je verschiedener Färbung, in je anderem Licht begegnet. Jedes möglicherweise Begegnende steht in dem jeweils besonderen und doch alles durchflutenden, sich allem mitteilenden Licht, und zugleich steht alles und jedes in Differenz zu diesem Licht selbst, und in seiner Strahlung im ganzen eröffnet und verbirgt sich nochmals zugleich das alles und sein eigenes Strahlen durchstimmende und in solcher Stimmung gewährende Woher dieses Strahlens. Die Transzendentalien sind ihrem Raum nach deckungsgleich; was sie zur je verschiedenen Landschaft macht, ist [73] die je andere Weise des je denselben und so doch nie gleichen Raum eröffnenden, sein-lassenden Anfangs. Als erste Antlitze und Strahlungen des Seins bieten sie sich dar. Am Beispiel des unum gezeigt: Alles, was ist, ist dadurch, daß und wie es ist, auf seine eigene Weise selber eins, in diesem es besondernden und an sich selbst gewährenden Einssein verschwistert mit allem, und doch ist keines und ist alles zusammen nicht jenes Eine, was mit dem anfänglichen Namen des Einen gemeint ist; dieses anfängliche Eine ist im einend-besondernden Walten des Seins bekundet und entzogen und nochmals bekundet und entzogen darin, daß es als Eines überhaupt genannt ist.

Was so vom Namen des Einen gilt, das gilt von den anderen ersten Namen je in sich selbst und gilt nochmals vom Verhältnis dieses Namens des Einen zu jenen anderen Namen, deren jeder ein einer und ein an sich selbst dem Namen des Einen entzogener und in ihm nicht enthaltener Name ist. Die Transzendentalien sind unter sich je vertauschbar und unersetzbar in einem.

Und nun eben die Frage: Zählt das Heilige unter die transzendentalen Bestimmungen? Läßt sich der Satz formulieren: Omne ens est sanctum?

Die Frage, wie das Heilige sich zum Sein verhalte, stellt sich aufs neue und am Ende noch schärfer in dieser Frage, ob das Heilige eine transzendentale Bestimmung sei.

Bedachtem Zusehen weist indessen das Heilige sich als Gegenteil, als Umkehrung der transcendentalia.

Wieso? Sosehr die transzendentalen Bestimmungen die unaufholbare Differenz ihrer wesenhaften Höhe zu dem Grad ihrer Realisierung in einem jeden Seienden offenbaren, sosehr sie also an sich selbst in jenes Geheimnis weisen, das über allem verfügenden Vorstellen draußen liegt, so deutlich ist ihr Blick doch dem Seienden zugewandt. Indem das Seiende ist, indem das Denken sich vollzieht, gehen sie auf. Dem Vollzug zwar zuvorkommend und ihn überholend, haben sie dennoch in diesem Vollzug ihre Stätte. Sie sind, obschon unendlich das Seiende übertreffend, jenes, [74] was das Seiende ist. Das Seiende ist ihre Epiphanie, sie sind die umfassend gewährende Wesenhaftigkeit des Seins fürs Seiende.

Kann man, von diesem ihrem Übertreffen her gesehen, auch das Gegenteil der Transzendentalität aussagen: Kein Seiendes ist wahr, gut oder schön, so trifft dies doch nur zu in dem Sinn und Maß, als auch kein Seiendes seiend ist. Sofern Seiendes ist, sofern ist es auch z. B. eins, wahr, gut. Die Differenz des Seienden zum Sein ist die Differenz des Wahren zur Wahrheit, des Guten zur Gutheit usf. Die Geschichtlichkeit des Seins im ganzen wiederholt und vollbringt sich in der Geschichtlichkeit dieser transzendentalen Grundbestimmungen selbst. Indem Sein im ganzen anders wird, wandelt sich auch der Sinn von Realität, Einheit, Unterschiedenheit, Wahrheit, Gutheit und Schönheit.

Ändert sich indessen nicht auch zugleich der Sinn des Heiligen? Gewiß. Und doch ist die Differenz des Seienden zum Sein nicht mit jener des Seienden zum Heiligen identisch. Der Satz: Kein Seiendes ist heilig! hat einen qualitativ anderen Sinn als der Satz: Kein Seiendes ist gut oder wahr oder seiend. Die transzendentalen Wesenszüge des Seins verwahren das Seiende im Sein, sichern es, seine Gegenwart in ihm, so unabdingbar sie an sich selbst in ihm auch verborgen, in Differenz zu ihm sind. Sie sind Züge des Seins aufs Seiende zu in den Vollzug seines Seins hinein – auch von den phänomenal gesprochen: „Nächsten“ unter ihnen zum Heiligen, vom Schönen und vom „aliud quid“ gilt dies –, sie kommen am Seienden, indem und sofern es ist, zum Vorschein.

Das Denken wendet sich in sein Eigenes, indem es sich den Transzendentalien zuwendet. Es verläßt sein Eigenes, sich selbst hingegen in der Betroffenheit des Gemeint- und Gerufenseins. Es ist gemeint und gerufen, freilich indem es ins Sein und in seine umgreifenden Wesentlichkeiten gerufen ist, doch dieses „indem“, dieses Weilen im Sein und in ihnen sinkt gerade zurück hinter seine Rückwendung ins Geheimnis. Das Seiende kann nur „heilig“ heißen, sofern es vom Aufgang des Heiligen ergriffen, sein Denk-Mal, Stätte des Ereignisses wurde, das sich an ihm über ihm begab. [75] Alles Seiende gar, Sein selbst, könnte heilig heißen nur so, daß sie das von sich weisende Mal der Erinnerung ihrer Gewähr würden, daß sie das Geopferte, Dargebrachte und so neu Gewährte einer alles eingreifenden und vollziehenden Hingabe, eines „Todes“ wären, der alles, was ist, verläßt und so alles zugleich verdankend weiht und anheimgibt der rufenden Huld heiliger Anfänglichkeit.

Es bestätigt sich: Das Heilige ist die Dimension des „Zurück!“. Es ist die Umkehr des Seins und seiner transzendentalen Bestimmungen in das im Sein-lassen Meinende und Rufende und nur in diesem Meinen und Rufen sein-lassende Geheimnis.

Das in seinem Unterschied zum Sein und seinen transzendentalen Grundweisen aufgehende Heilige rückt auch ab von einem bloß „Numinosen“, als das es Gestimmtheit und Eigenschaft des Seins und am Seienden würde. Ein so verstandenes Numinoses wäre zugeordnet einem „religiösen Sinn“, einer Anlage des Geistes unter seinen anderen Sinnen und Anlagen, abgelöst von der das Denken an sich selbst und im ganzen einbegreifenden Scheidung, in welcher das Ich selbst dem Ruf des Komm antwortet, der es aus sich selbst, aus allem Seienden und aus dem Sein selbst hinwegruft. Sofern dieser Ruf des Heiligen je nur im Sein Gestalt gewinnt, hat die Rede vom Numinosen und seiner Erfahrung ihren Sinn; das Numinose ist die Spur des Heiligen im Sein, im Wahren, Schönen, Guten, die aber in sich selbst zweideutig bleibt: Macht das Denken sich in ihr fest, so verfehlt es die Heiligkeit des Heiligen; verläßt es sie und sich selbst, seine Erfahrung, im vollzogenen Eingehen auf den Ruf des Komm, so und so allein wird sie ihm zur Spur des Heiligen. Gerade dort aber, wo geschichtlich diese Spur sich zurücknimmt, wo das Numinose nicht mehr erfahren wird, wo das „Wunderbare an den Dingen“ entschwindet, wo das Denken und in ihm das Selbst auf die Spitze ihrer selbst und ihrer allein gestellt sind, in der äußersten Profanierung, in der höchsten Gefahr des Verlustes des Heiligen also, vermag das Gestelltsein des Denkens und des Selbst in die Bodenlosigkeit seiner letzten Frage sich zu entbergen als das Gestelltsein in die Grundlosigkeit des reinen Rufes.


  1. Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q. 1 a. 1 c. a., sowie De natura generis, cap. 2. ↩︎