Seelsorge als geistliches Tun

Das Kreuz

Jeder stirbt seinen Tod, aber Einer stirbt unseren Tod. Und durch ihn, durch seinen Tod ist das Einsamste und Ausschließlichste eines jeden Menschen, sein Tod, sein Schicksal, seine Schuld, der Einsamkeit entrissen, In die Kommunikation mit dem Leben Gottes gehoben und selber dazu verwandelt, Kontaktstelle mit Gott und mit den anderen, Vollzug von Kommunikation und Partizipation zu sein. Gott hat für die Erlösung nicht den „pragmatischen“ Weg gewählt: mit dem geringstmöglichen Einsatz den höchstmöglichen Effekt zu erreichen. Er hat die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen: er hat mehr gegeben, als notwendig ist, hat alles gegeben, sich selbst. Warum? Weil er nichts, keine Dunkelheit und keine Ferne, keine Frage und keine Verlassenheit draußen lassen wollte aus seinem liebenden Teilnehmen an unserem Leben, aus der liebenden Kommunion mit uns. Sich wiederfinden in Jesus: das heißt doch vor allem das wiederfinden, vor dem ich erschrecke in mir, das, mit dem ich nicht fertig werde, das, was mir den Mut nehmen will, zu leben und als ich selber zu leben. Wenn ich in das Antlitz des Gekreuzigten schaue, dann finde ich mich – [280] und ich bin dort angenommen, geliebt, ausgehalten, verwandelt. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für die Freunde hingibt (vgl. Joh 25,23) – es gibt keine dichtere Teilhabe und Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch und zwischen Mensch und Mensch als jene, die uns begegnet im Kreuz.

Dem andern helfen, sich wiederzufinden in Christus, das heißt in diesem Kontext: dem anderen glaubhaft machen, daß er von Jesus Christus angenommen ist, bejaht ist. Doch wie das beglaubigen? Nur wenn ich den anderen annehme, nur wenn ich ihn übernehme, nur wenn ich ja zu ihm sage, kann er glauben, daß jener ihn angenommen, übernommen und bejaht hat, den ich ihm bezeugen will. Lieben, wie Jesus geliebt hat, als das Zeugnis, damit die Welt glaubt (vgl. Joh 13,34f), das führt uns nicht nur vor das Kreuz, sondern in das Kreuz hinein. Das Kreuz selbst ist Lebensform und Dienstform des Seelsorgers. Und zwar das Kreuz als das Mittragen, als die Übernahme des Kreuzes, das mir in meinem Nächsten begegnet. Kreuz als Vollzug von participatio und communio macht indessen weder traurig noch krank, im Gegenteil. Denn wenn es traurig und krank macht und nicht von innen her über Krankheit und Traurigkeit hinausführt, dann ist eine fatale Verwechslung vorgekommen. Dann habe nämlich ich gemeint, ich müsse das Leiden und die Not des anderen heilen, ich sei der Erlöser und nicht Jesus. Anstrengend und einfordernd ist das Kreuz auf jeden Fall, aber zugleich eben befreiend. Der „Rhythmus“ der Seelsorge aus dem Kreuz geht doch so: Das Dunkle, Unlösbare, Abgründige, das ich an dir finde, finde ich in Jesus. Es ist sein. Und deswegen ist es auch mein, nehme ich es an mich, weiche ihm nicht aus, beschönige es nicht. Aber indem ich es an mich ziehe, gebe ich es ihm, lasse ich es ihm. Ich stehe mit dir in letzter Solidarität, aber nicht in einer Solidarität der Bedrückung und Ratlosigkeit, sondern diese Solidarität wird durch die Möglichkeit, das Deine an ihn weiterzugeben, zur Hoffnung und zum Zeugnis der Hoffnung.

Hat nicht ein Bischof, hat nicht ein Pfarrer, hat nicht jeder Seelsorger eigentlich vor allem diese Aufgabe: sehen, was nicht gut ist und nicht geht, es an sich herankommen lassen, zu ihm sagen „Das ist mein!“ und es weitergeben an Ihn? Dies schützt ebenso gegen die Flucht in die Illusion, daß alles doch ganz gut sei, wie gegen die Flucht in die Resignation, daß alles doch keinen Wert habe.

Nochmals ein Kontext aus Lateinamerika: Eine Gruppe von jungen Menschen, die aus dem Evangelium leben, gibt sich hinein in die Arbeit an einem Elendsviertel am Rande einer Weltstadt, das den Namen trägt „Insel der Hölle“. Sie tun nichts anderes als „Magnet“ sein für das Elend; sie verwandeln es in Liebe zum je neuen Anfang. Ein Sturm, der eine Reihe Hütten einreißt, der Rückfall eines Familienvaters in den Alkohol während einer Nacht, die Gegenaktion einer Gruppe mit ganz anderen Idealen unter den jungen Leuten, und alles bricht wieder zusammen. Aufbau und Zusammenbruch als beständiges Wechselspiel erzeugen jene Geduld, die zur Bewährung, und jene Bewahrung, die zur Hoffnung führt, die nicht mehr enttäuscht (vgl. Röm 5,1–5). Das „Geheimnis“: täglich neues Ja zu Jesus am Kreuz und in der Verlassenheit. Missionarische und brüderliche Gemeinde kann auch bei uns nur wachsen, wo Menschen füreinander und für die anderen in diese Logik der Hoffnung aus dem Kreuz einsteigen. Sie ist das Kennmal der Unterscheidung für wahrhaft christlich verstandene participatio und communio.