Glauben – wie geht das?

Das Kreuz im Gang der Evangelien

Nicht nur die einzelnen Aussagen des Neuen Testamentes über das Kreuz sagen aus, was das Kreuz ist und bedeutet, sondern auch der Stellenwert, die äußere Position der Kreuzesbotschaft in der neutestamentlichen Darstellung des Glaubens. Nehmen wir die Evangelien in den Blick. Sie alle laufen zu auf die Leidensgeschichte und das Auferstehungszeugnis als den abschließenden Höhepunkt. Das entspricht nicht nur der biographischen Stellung von Tod und Auferstehung im Leben und Wirken Jesu, sondern dieses Ende gibt auch die Erzählperspektive für das Ganze ab und bestimmt seine Ordnung. Überscharf gesagt: Nicht, weil Tod und Auferstehung zum Schluß des Lebens Jesu kommen, bilden sie die Spitze der Evangelien, sondern weil diese Spitze zugespitzt zur Geltung kommen soll, werden die vorlaufenden Linien auf sie hin durchgezogen, wird die Vorgeschichte von Kreuz und Auferstehung berichtet, zumindest: so berichtet.

Sehen wir ab von den Vorbereitungen, die Lukas und Johannes bereits in ihren ersten Kapiteln treffen (vgl. Lk 2,34f. 46–49; Joh 1,11.29.36; 2,19–22; 3,13–18), so fällt doch bei allen vier Evangelien auf: Das Hinlaufen des öffentlichen Wirkens Jesu auf die Passion ist ein entscheidendes Gliederungsprinzip.

In den drei ersten Evangelien

Die drei ersten Evangelien bringen, jeweils im Anschluß an den Gipfelpunkt des Petrusbekenntnisses zu Jesus als dem Messias, drei einander folgende Ankündigungen Jesu von seinem Leiden und seiner Auferstehung. Am schärfsten tritt dieser Rhythmus bei Markus zutage, Matthäus und vor allem Lukas ordnen zwischen der zweiten und dritten Ankündigung eine Fülle anderen Stoffes an; die beiden ersten Ankündigungen werden noch in Galiläa, die dritte jeweils auf dem Weg nach Jerusalem plaziert. Dieser „Weg“ hin zu den letzten Tagen in Jerusalem und innerhalb dieser letzten Tage dann hin zum Paschafest unterstreicht kontrapunktisch dasselbe, was im [72] Dreimal des Hinweises auf Leiden und Auferstehung ausgesagt wird. Zumal Lukas (vgl. den Drehpunkt 9,51) versteht Jesu Weg als Weg in seinen Tod.

Was sagt solche Gliederung innerhalb der drei ersten Evangelien? Einmal ist wichtig die Stellung der ersten Leidensweissagung nach dem offenen Bekenntnis des Petrus, daß Jesus der Messias, daß er jener ist, der von Gott her die entscheidende Rolle im Kommen seiner Herrschaft innehat. Das Leiden wird in Kontrast zu dieser Rolle im Blick auf die Erwartung der Jünger und in Entsprechung zu dieser Rolle in der Perspektive Gottes gesetzt; das hebt besonders der Disput zwischen Jesus und Petrus am Anschluß an die erste Leidensankündigung heraus (vgl. Mk 8,32f.; Mt 16,22f.). Zusätzlich wird diese Position der ersten Leidensweissagung noch betont durch das, was jeweils nach einem knappen, aber wichtigen Zwischenglied folgt: die Verklärung Jesu, die wiederum auf Tod und Auferstehung Jesu hinweist und darin die Fassungskraft der Jünger laut Markus und Matthäus übersteigt (Mk 9, 9f.; Mt 17,9.12b; insgesamt Mk 9,2–8; Mt 17,1–8; Lk 9,28–36).

Die Leidensansagen Jesu stehen in einem für die Interpretation wichtigen Zusammenhang mit Anweisungen Jesu an die Jünger. Die erste Ankündigung bietet überall den Evangelisten den Ansatzpunkt, den Kreuzweg als Weg der Nachfolge auch für die Jünger herauszustellen (Mk 8,34 – 9, 1; Mt 16,24–28; Lk 9,23–27). Auf die zweite Ankündigung folgt – nur bei Matthäus unterbrochen durch ein kurzes Zwischenstück – die Episode vom Rangstreit der Jünger, den Jesus damit auffängt, daß er das Kleinsein als das wahre Großsein hinstellt (Mk 9,33–37; Mt 18,1–5; Lk 9,46–48). Markus wie Matthäus lassen unmittelbar auf die dritte Ankündigung die Bitte der Zebedäussöhne um die Plätze zur Rechten und Linken Jesu und sein Wort an die Jünger folgen, das seine Mission als Dienst und sein kommendes Sterben als sühnende Hingabe für die Vielen deutet. Nur Lukas hebt dieses ab und rückt es in den anderen Zusammenhang des letzten Abendmahles (vgl. Mk 10,35–45; Mt 20,20–28; Lk 22,24–26). Jesu Tod hat also in der Theologie der drei ersten Evangelien zu tun mit dem Plan Gottes und der Sendung [73] Jesu für das Heraufkommen der Gottesherrschaft, mit unserem Heil und unserer Erlösung, mit unserem Leben als Jünger, die auf den Weg der Nachfolge als Kreuzesnachfolge gewiesen sind.

Bei Johannes

Das vierte Evangelium ist deutlich anders angelegt als die ersten drei, doch in einem wichtigen Punkt entspricht es ihnen: in der Stellung der Passion Jesu. Nicht nur, daß sie auch bei Johannes der alles bestimmende und ausrichtende Schlußpunkt des Ganzen ist, sie markiert auch den Dreh- und Mittelpunkt und somit die Gliederung des Wirkens Jesu in der johanneischen Darstellung. In den großen Reden des 3., 10. Und 12. Kapitels (Joh 3,13–21; 10,1–18; 12,23–33) wird die Passion als Hingabe und Erhöhung ausdrücklich angesprochen. Die Mitte und Spitze des Aufbaus verbirgt sich jedoch in der Dramatik des 6. Kapitels.

Die Speisung der Fünftausend (6,1–15) führt zum Mißverständnis Jesu als des Brotkönigs. Dieses Mißverständnis arbeitet er auf in der Rede vom Lebensbrot (6,22–31). Doch gerade hier erfolgt der Umschlag von der Begeisterung zum Ärgernis. Und dieser Umschlag hängt wiederum zusammen mit der Passion, der Passion nicht in sich, sondern in ihrer sakramentalen Weitergabe: Jesus gibt nicht etwas anderes als Brot des Lebens, sondern sich selbst. Das heißt aber in äußerster Konsequenz: sich selbst als Speise. Sein Fleisch und Blut werden Speise und Trank. Diese Rede ist hart. Hart ist sein absoluter Anspruch, als Person der Heilsbringer schlechthin, das Brot des Lebens zu sein. Hart ist seine Weise, dieses Heil zu wirken in jener Selbsthingabe, die Hingabe des Lebens, ja Verwandlung des eigenen Lebens in Speise für die anderen bedeutet. Hier sind die Jünger zum äußersten herausgefordert und folgt die Entscheidung (6,60–71). Aus der österlichen Perspektive, vom sakramentalen Weiterwirken der Passion und Auferstehung her, wird die Dramatik ihrer Vorgeschichte im Leben und Wirken Jesu vor Ostern und auf Ostern hin erkannt. So schließt sich auch ans 6. Kapitel unmittelbar die Auseinandersetzung Jesu mit seinen Brüdern [74] über seine Stunde und alsdann der Wechsel des Schauplatzes seines Wirkens von Galiläa nach Jerusalem an (vgl. Joh 7,1–13).

Es bestätigt sich: Das Zulaufen der Verkündigung und Wirksamkeit Jesu auf das Kreuz ist jener Klärungs- und Scheidungsprozeß, in dem der Sinn seiner Sendung hervortritt und die Glaubensentscheidung herausgefordert wird. Der Anstoß, den die Menschen an Jesus nehmen, ist dabei ausgerechnet der Anstoß an jener Niedrigkeit, die Ausdruck der größten Liebe, jener Liebe ist, die bis zum letzten und äußersten geht.