Glauben – wie geht das?

Das Kreuz leben: wie geht das?

Von allem Anfang an wird das Kreuz als die radikalste Herausforderung an unsere glaubende Annahme, aber auch als radikalste Herausforderung unserer freien Übernahme des Weges Jesu verkündet. Im Kreuz wird offenbar, daß wir unser Heil nicht selber vermögen, sondern es uns schenken lassen müssen. Nirgendwo sind wir „kleiner“ als dort, wo unsere ganze Last uns abgenommen wird und wir durch den zu Tode gequälten und in die Verlassenheit gespannten Herrn unseres Glaubens dem konfrontiert werden, was wir von uns aus und ohne Gott sind. Der Ruf zur Umkehr, aber auch zur dankbaren und gläubigen Übergabe unseres Daseins an den, der uns bis zum äußersten geliebt hat, ist die Predigt, die uns das Kreuz Christi hält. Dies ist der nächstliegende und elementare Kreuzweg des Glaubens: der Weg vom Leistenmüssen zum Beschenktwerden. Nicht wir haben zuerst geliebt, sondern er hat zuerst geliebt (vgl. 1 Joh 4,10.19).

Annehmen und Glauben lassen sich aber nicht trennen vom Mitvollzug, von der Übernahme desselben Weges. Das ist uns schon beim ersten Blick auf die Leidensweissagungen begegnet, und die Jüngerunterweisung greift dieses Motiv nochmals auf (vgl. Mt 10,38; Lk 14,27). Wie sehr das Kreuz den Rhythmus unseres ganzen Lebens bestimmen will, zeigt der lukanische Zusatz, daß wir unser Kreuz täglich ihm nachtragen sollen (vgl. Lk 9,23). Auch Johannes schließt an Jesu Wort vom Gesetz des Weizenkorns die Aufforderung an die Jünger an, Jesu Weg zu teilen (vgl. Joh 12,25f.). Das lukanische „Muß“ greift vom Leiden Jesu herüber auf uns und unser Jüngerschicksal: Paulus soll erfahren, wieviel er für den Namen Jesu leiden muß (Apg 9,16), und es gehört zur Unterweisung an alle Jünger: „Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes eingehen“ (Apg 14,22).

Es wäre jedoch zugleich zu wenig und zugleich zu schwer, wollten wir nur unser Kreuz tragen, wie Jesus es getragen hat. Es ist mehr und zugleich leichter, es mit ihm zu tragen, ihm selbst in unserem Kreuz zu begegnen, mit ihm in unserem Kreuz zusammenzu- [87] wachsen. Die von uns im Kontext der Nachfolge bereits erwähnte Paulusstelle aus dem Philipperbrief sagt uns hier das Entscheidende: „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden; sein Tod soll mich prägen“ (Phil 3,10). Wörtlich übersetzt, sagt der letzte Ausdruck: „Gemeinschaft mit seinem Leiden, indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde.“

Wir dürfen, für unseren Vollzug, für das Gehen auf dem Weg des Glaubens, es uns vor Augen halten: Überall, wo uns Dunkel, Frage, Abgrund, Schuld, eigene oder fremde, Trennung, Abschied, Ferne von Gott begegnet, um uns oder in uns, begegnet uns etwas, das Jesus in seinem Kreuz angenommen, mitgetragen, integriert und verwandelt hat. Er hat diese Gestalt unseres Lebens und unserer Geschichte sich angezogen, sie ist sein Kleid, mehr noch sein Antlitz. Dann aber heißt konkret mit ihm leben, Nachfolge leben: ihn dort erkennen, wo er mir begegnet, dort mit ihm leben, wo er mir begegnet. Die Kommunion mit dem Gekreuzigten in unserem Alltag ist nicht eine sublime Mystik für besondere Leute, sondern Ernstfall der Nachfolge hier und jetzt. Darin gerade der Ernstfall des Erlöstseins. Wir begegnen dem, was er schon angenommen und verwandelt hat, wir sehen ihn mit seinen verklärten Wunden. Vorurteilsloser Realismus, der nichts zu verdrängen braucht, an nichts vorbeizusehen braucht, nichts zu beschönigen braucht, letzte Sensibilität für alles, was schmerzt und was nicht aufgeht, und dabei zugleich ganzes Vertrauen, ganze Freiheit, ganze Gelassenheit – dies ist das Geschenk erlösten Lebens. Und wir können es nicht anders uns schenken lassen als durch die ständige Bereitschaft, ihn in seinen Leiden zu erkennen.

Genieren wir uns nicht, es in einigen kleinen Schritten anschaulich zu machen, wie das geht, leben mit dem gekreuzigten, am Kreuz für uns verlassenen und hingegebenen Herrn.

a) Ihn in allem erkennen! Es kann nichts geben, was nicht er ist. Nichts, was nicht er an sich genommen hat. Und so begegnet er uns im kleinsten Kopfweh und in der größten Katastrophe, im scheinbar harmlosen Mißverständnis und im folgenschweren Versagen, [88] im Verkehrsunfall und in den Folterungen und Ungerechtigkeiten irgendwo in der Welt, und gewiß nicht zuletzt in dem, was in seiner Kirche nicht nach ihm aussieht und nicht ihn anziehend macht. Nennen wir ihn doch ruhig beim Namen, fragen wir ihn: Wie heißest du für mich heute? Weichen wir nicht davor aus, sondern gehen wir auf das zu, was uns schmerzt – wir gehen auf ihn zu.

b) Nicht ihn in Kauf nehmen, sondern auf ihn zugehen! Wenn es er ist, dann ist er mein bester Freund, dann kann ich nirgendwo sicherer und ruhiger und geborgener sein als bei ihm. Machen wir uns das Leben nicht unerträglich, indem wir beständig vor dem Kreuz fliehen, dieses oder jenes Problem so überkleistern und in die Rotation der Angst vor dem geraten, was kommt. Wer ihn liebt, der wird seine Liebe erfahren. Aber Liebe berechnet nicht, sondern schenkt sich, geht voll Vertrauen auf den zu, den sie liebt.

c) Keine halbherzige Ergebung, sondern das sofortige und ganze Ja! Oft erweckt „Kreuzesliebe“ den Eindruck des Schiefen, Matten, Unvitalen. Dieser Eindruck hat recht, wenn Kreuzesliebe die Selbstverschleierung der Resignation bedeutet, wenn sie nur fromm verbrämt, daß wir nicht den Mut haben, klärend und ändernd auf die Verhältnisse zuzugehen. Das sofortige und ganze Ja zum gekreuzigten Herrn macht hingegen frei und setzt jene Kräfte frei, die wir brauchen, um das zu verändern, was zu verändern ist, und das zu verwandeln, was nicht zu verändern ist. Das Sofort und das Alles der Nachfolge wird aktuell, wo mir das Kreuz, wo mir er am Kreuz des Augenblicks begegnet. Nachfolge wird dadurch ganz groß und ganz frei und bewährt sich doch am Kleinsten und Unscheinbarsten.

d) Nicht erst sehen, sondern erst lieben! Gerade wenn ich nicht sehe, nicht verstehe, nicht die Lösung weiß, ist es er. Darauf zugehen, immer mit dem ernst machen, was ich weiß – damit, daß stets das Wie des Vertrauens und der Liebe gefordert ist –, dies ist der Weg ins Licht. „Meine Nacht kennt kein Dunkel!“ dieses Wort aus der Laurentiuslegende gilt für den, der die Augen nicht vor der Nacht verschließt, sondern in ihr den erkennt, der für uns Nacht geworden ist und so gerade das alles erleuchtende Licht.

[89] e) Im Ja zum Gekreuzigten, zu seiner Einsamkeit und Verlassenheit den Durchbruch in die Gemeinschaft, ins Miteinander wagen! Wer sich nicht davor fürchtet, auf den Gekreuzigten zuzugehen, ihn auch unter dem Namen des Verlassenen, des Isolierten, des Unverstandenen zu erkennen, der ist es, der die Mauer zu durchbrechen vermag, die uns voneinander trennt. Dein und mein unmitteilbar einsamstes Geheimnis, deine und meine Last, von der wir einander nichts zu sagen und zu erklären vermögen, ist das, was uns immer schon verbindet. Er hat deine und meine Last getragen. Er hat uns dort schon miteinander eins gemacht, wo er einsam zwischen Himmel und Erde hing. Das Ja zu ihm ist Ja zu dem, was uns eins macht, ist Weg zueinander.

Diese Schritte sind nicht fromme Übungen, sondern einfach die Anwendung der Logik des Kreuzes, die Auslieferung an den Weg, der Jesu Botschaft von einer Vision zur Wirklichkeit, zur Geschichte, zum Leben hat werden lassen. Kreuz ist das, was nicht geht. Aber er ist den Weg des Kreuzes gegangen, ist durch das Kreuz hindurchgegangen. Und zu ihm können wir gehen, jeden Augenblick.