Das Heilige und das Denken

Das mögliche Zueinander von Denken und Heiligem

Denken weiß über seine Andersheit zum Heiligen hinweg und als diese seine Andersheit zum Heiligen, wie das Heilige sein müßte, um ihm, dem Denken, heilig zu sein.

Doch darf das sein? Heiliges, das vom Denken darauf festgelegt würde, so oder so zu sein, fiele unter das „ist“ des Denkens, wäre als unfaßbar doch von ihm gefaßt, ihm unterworfen und gerade nicht mehr heilig. Gewiß weiß das Denken zu Recht, daß es nur in der Überwältigtheit seiner selbst dem Heiligen begegnen könne, aber die Weise seines Wissens, die Weise, wie es selbst Denken ist, muß aus der des Fassens sich freigeben in eine andere, sich selbst und dem Aufgang des Heiligen zugleich gemäße, damit dieses sich unverstellt dem sich hellen Denken antun könne.

Das Postulat, das in unserer leitenden Frage ans Heilige gerichtet erscheint (Wie ist Heiliges zu denken, damit es dem Denken heilig sei?), muß offenbar werden als Postulat ans Denken: Nicht das Denken hat Bedingungen zu stellen ans Heilige, sondern das Heilige ans Denken – dies ist die einzige Bedingung, die das Denken ans Heilige zu stellen hat. Sie fällt ans Denken zurück: es soll sich lösen von seinem ist-sagenden Verfügen in eine totale Verfüglichkeit, aus welcher das Heilige die Weise des Denkens entbinden kann, die allein seinem Aufgang gerecht wird.

Um dasselbe von der anderen Seite her zu sagen: Nicht dann ginge das Heilige dem Denken auf, wenn es feststellte: Hier ist etwas, was sich dem Istsagen entzieht, ihm etwa ermöglichend voraufgeht. Solches Feststellen geschähe ja seinerseits, vom Denken, als ein „ist“, das beherrschend dem Unbeherrschbaren zuschaute.

Wie aber muß Denken dann Denken sein, damit es dem Aufgang des Heiligen entspreche und ihm doch als Denken entsprechen könne?

Als Denken, das heißt: in der Achtsamkeit auf das, was ist. Die Frage, ob es auch so sei, wie das Denken es denke, die Verantwortung für sich selbst aus der Beunruhigung vom Sein her, ist jenes, [21] das alles Denken begleiten können muß, damit es sich helles Denken sei (um hiermit eine von der Kantischen transzendentalen Apperzeption im Ansatz verschiedene umgreifende Grundbedingung alles möglichen Denkens namhaft zu machen).1 Denken, das sich in seinem Fassen nicht schließen und doch Denken bleiben soll, Denken, das also vom Sein her kommen soll, ohne sich im verfügenden Istsagen zu erfüllen, ist Frage, Frage aber, die als Frage bleibt und nicht auf eine sie stillende Antwort ab-, sondern über sie wesenhaft hinaussieht. Ist solche Frage aber nicht ein Selbstwiderspruch? Will die Frage nicht ihr Erfragtes so notwendig wie das Denken sein Gedachtes als eines, das ist? Hat sie sich nicht schon je im Umgrenzen eines Raumes möglicher Antwort fassend geschlossen?

Um sich helles Denken zu bleiben, kann das Denken nicht auf die Frage verzichten, um vors Heilige zu kommen, muß diese Frage aber, wie es scheint, auf ihren Wesensbezug zur faßbaren Antwort verzichten. Es bleibt dem Denken nur, bei sich selbst anzufragen, ob es eine Weise seiner selbst kenne, die über sich hinausreicht, ohne im Übersichhinausreichen das, wohin sie reicht, fassend in sich zu setzen. Solches geschieht in der Anrede.

Anrede ist eine Weise des Denkens, denn das Denken weiß, daß es anredend nicht in sich bleibt, sondern von sich weg, über sich hinaus geht, der Bezug zum Anderen des Denkens als Bezug im Denken ist gewahrt, ja gesteigert. Und doch weiß das anredende Denken, daß es anredend gerade nicht „fasst“, sondern sich freiläßt in die Überraschbarkeit aus dem Angeredeten, das in der Anrede in seinen Rang der Unfaßbarkeit, weil eigenen Ursprünglichkeit erhoben ist.

Denken, das seine Frage anredend, d. h. als Anfrage fragt, vermag den Überstieg vom fassenden zum lassenden Denken, und dieses lassende Denken allein ist bereit für den Aufgang des Heiligen.


  1. Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 131f. und A 106ff. ↩︎