Proportio aequalitatis – eine Erwägung zu Bonaventura, Itinerarium II 6

Das Motiv und sein Kontext in Itinerarium II

Für Bonaventura als prägende Gestalt der Frühzeit des franziskanischen Aufbruchs ist es naheliegend, in der Schöpfung denkend den Weg zur Begegnung mit Gott aufzuschlüsseln und nachzuzeichnen. Dies geschieht bei ihm immer wieder und am eindrücklichsten eben in seinem Itinerarium. Das „Pilgerbuch der Seele zu Gott“1 zeichnet einen Weg durch die Schöpfung auf Gott zu, ausgehend von den Dingen, weiterführend über die Seele, hingelangend zur Kundgabe Gottes durch das dem Denken sich erschließende Sein und in der dem Glauben sich erschließenden Offenbarung. Dieser Weg hat viele Schritte, die miteinander in Stringenz und Konsequenz zum Ganzen verbunden werden, das sich eben in der Einung mit Gott vollendet. Diese Schritte sind zugleich aber – und dies ist höchst originell – Stufen die unmittelbar nicht nur zur nächsten Stufe, sondern ebenso unmittelbar je zum Ziel selber, zu Gott führen. Und sie tun es in einer doppelten Weise. Zum einen kommt das Denken durch das, was sich hier ihm zu denken gibt, also in einer Operation der denkenden Vermittlung, zu Gott; zum anderen aber scheint dieser Gott unmittelbar auf jeder Stufe unmittelbar in den Seienden, in den Phänomenen auf. In den Dingen, in den materiellen und geistigen Elementen und Momenten, die unsere Welt fügen, gibt es an jedem Punkt eine eigene Präsenz, einen eigenen Widerschein Gottes, die durch einen weiteren Weg zu Gott hin nicht hinfällig, nicht überholt sind.

Bereits diese Hinweise auf die immanente Architektur des Gedankens im Itinerarium lassen etwas schmecken von der franziskanischen Faszination bonaventuranischen Denkens, in dem die Welt lassen und die Welt lieben, die Welt übersteigen und in die Welt eindringen eines und dasselbe sind. Das Schöne, der splendor veri, hat bereits vor seiner Ausdrücklichkeit im Denken Bonaventuras sich dessen Stil eingeprägt.

Das Kapitel II des Itinerarium leistet nun die Ausdrücklichkeit der Verbindung zwischen ästhetischem Denken und Gotterkennen. Es ist hierbei recht schwierig, das Philosophische und Theologische in Bonaventuras Gedanken zu trennen. Er ist als Glaubender, als von der Offenbarung Gottes in Jesus Ergriffener da mit seinem Denken in aller menschlichen Weite und Ursprünglichkeit. Es liegt Bonaventura ferne, Theologisches philosophisch zu deduzieren, aber sowohl vom Glauben wie vom Denken ausgehend, stößt er vor zu gegenseitig erhellenden Konvergenzen, zu einer übersteigenden Vollendung philosophischer Beobachtungen in den Motiven der Offenbarung und zu deren Auslegung und Erhellung durch das unmittelbar von sich selbst ausgehende Denken. Dabei muß freilich betont werden, daß Ausgehen des Denkens von sich für Bonaventura Ausgehen des Denkens von Gott enthält, daß Gott aber, indem er sich selber schenkt, dem Denken auch schenkt, aus sich selbst aufzubrechen und dem zu entsprechen, was es übersteigt.

Der Ort im Gefüge des Itinerarium, der dem II. Kapitel zukommt, ist die Offenlegung der Spur Gottes in den geschaffenen Dingen.

Es wäre nun zu erwarten, daß Bonaventura konkrete Züge oder doch Grundstrukturen des Seienden ans Licht höbe, die einen Hinweis auf die in ihnen waltende Mächtigkeit oder doch Berührbarkeit Gottes geben. Die Vermutung liegt nahe, daß, um zu Gott [205] in den Dingen zu kommen, Bonaventura sie „objektiv“, in ihrer Gegebenheit untersuchte und interpretierte. Doch er schlägt einen überraschend anderen Weg ein. Es geht ihm um die Dinge in sich – und er sucht die Dinge in uns, besser: in dem Verhältnis, in das sie zu uns treten, indem sie sich uns eröffnen und mitteilen. Die Dinge in sich, das bedeutet in diesem Kontext für Bonaventura: die Dinge, die ihr Sein zur Erscheinung bringen, sich unseren Sinnen einprägen und, un- bonaventuranisch ausgedrückt, in unserem Erkennen zu sich kommen, die Dinge in ihrer inneren, für sie konstitutiven Relationalität zum Wahrnehmen.

Der „Treffpunkt“, an welchem sie sich in uns hinüberbringen und wir ihrer innewerden, ist hier aber nicht die Erkenntnis in sich, sondern die oblectatio, das Sich-Erfreuen, der Genuß. Dort entdecke ich die Dinge und Gottes Spur in ihnen, wo ich mich an ihnen freue, wo ich sie als Geschenk erfahre.

Viele vermittelnde Glieder auslassend und nur auf das für unseren Grundgedanken Wesentliche sich konzentrierend, können wir sagen: Die Stelle, um auf Gottes Spur in den Dingen zu stoßen, ja ihm in den Dingen zu begegnen, ist die dijudicatio der ratio delectationis, die Beurteilung, warum das Erscheinende gefällt, wohltut.2

Die delectatio hat drei vornehmliche Gestalten, in Entsprechung zu drei Eigentümlichkeiten jenes Erscheinungsbildes, vielleicht wäre es besser zu sagen: jenes Wirkbildes das vom erscheinenden Ding aus- und in den Wahrnehmenden und Genießenden eingeht. In diesem Bild als Sich-Zeigen des Seienden geht zunächst die Form, die Gestalt des Seienden auf – in der Vermittlung seiner selbst im Bilde entfaltet das Seiende zugleich seine Kraft, seine Intensität, mit der es den Wahrnehmenden angeht – in diesem Sich-Mitteilen im Bild bewirkt schließlich das Seiende etwas in dem, es „macht“ etwas mit dem, der es wahrnimmt, bestimmt ihn in seinem Sein. Bonaventura spricht von der „ratio formae, virtutis et operationis“.3 Die Form, die Gestalt erfreut den Wahrnehmenden und läßt ihn den Grund seiner Freude als Schönheit bezeichnen. Die Intensität, mit welcher das Seiende durch seinen Ein-fluß und Ein-druck („Wirkbild“) in die Sinnes- und Geisteskraft des Wahrnehmenden eindringt, führt zum Wohlgefallen, sofern der Eindruck dem Organ, der Kraft des Wahrnehmenden entspricht; die Extreme schrecken ab, das Maß erfreut. Der Einfluß und Eindruck des Seienden tritt schließlich ins Verhältnis zu Erwartung und Bedürfnis des Wahrnehmenden, und wo Entsprechung zu diesem Erwarten und Bedürfen gelingt, wo sie „erfüllt“ werden, da erweist das Seiende sich als heilsam. Bonaventura spricht von den Eigenschaften des Seienden als pulcrum, als suave, als salubre. Faszination, Maß, Heil sind Grundeigenschaften des Seienden, das heißt aber: der Begegnung des Seienden mit dem, der es wahrnimmt und bei dem in dieser Wahrnehmung das Seiende die Freude, den Genuß auslöst.

Werden nun diese Phänomene in ihr Gemeinsames und Grundlegendes hinein durchschaut, so zeigt sich: Es geht jeweils um eine proportio, um eine Bezüglichkeit oder Entsprechung: „Omnis autem delectatio est ratione proportionalitatis.“.4

Durch sein Erscheinungs- und Wirkbild löst das Seiende im Wahrnehmenden eine Reaktion, eine Antwort aus, die im geglückten Fall eben der Genuß, die Freude am [206] Sich-Schenkenden ist. Darin realisiert sich eine Bezogenheit, ein responsoriales Zusammengehören von Seiendem und Wahrnehmendem.

Diese Proportionalität, dieses Verhältnis zwischen beiden ist nun angelegt auf eine aequalitas, auf eine Gleichheit oder Gleichgewichtigkeit, die im Wohlgefallen am Schönen, in der sammelnden Gestimmtheit durch das Maß, in dem Erfahren des Heilenden und Heilsamen erfahren wird. Der Grund des Wohlgefallens geht also auf als „proportio aequalitatis“.5


  1. Bonaventura: Pilgerbuch der Seele zu Gott, übers. v. Kaup, Julian, München 1961. ↩︎

  2. Vgl. Itinerarium II 6. Oblectatio und delectatio werden wechselweise und gleichzeitig gebraucht. ↩︎

  3. Vgl. Itinerarium II 5. ↩︎

  4. Itinerarium II 5. ↩︎

  5. Itinerarium II 6. ↩︎