Das Neue ist älter

Das Neue ist älter

[81] Was wäre älter und was wäre neuer als eine Quelle? Die Quelle ist älter als das, was ihr je entspringt, sie ist zuerst da. Aber sie ist nur, indem ihr etwas entspringt, und was ihr frisch entspringt, das ist je das Neueste. So ist die Quelle selber nicht nur älter als das, was ihr entspringt, sondern zugleich je neuer. Die Quelle also ist jenes Neue, das älter ist, jenes Ältere, das neuer ist. Wir brauchen die Quellen, wir können nur aus den Quellen leben.

Man sollte es nicht modisch und töricht schelten, wenn man immer wieder die Neuorientierung auch in der Theologie fordert. Es ist notwendig, daß wir das Neue suchen. Es ist wahr, daß es nicht einfach nur so weitergehen kann. Aber nicht deswegen, weil es langweilig wirkt, wenn man immer dasselbe wiederholt, nicht deswegen, weil man es sich nicht leisten könnte, noch so zu reden, wie die Menschen heute nicht mehr reden. Der tiefere Grund, warum Theologie neu werden muß, immer und besonders heute, liegt im Evangelium selbst. Jeder, der dem Evangelium begegnet, jeder, der sich ihm ausliefert, wird entdecken, daß wir seine Neuheit noch lange nicht eingeholt haben. Wir selbst sind die je neu Überholten und Überwältigten von ihm, wir bleiben je zurück hinter dem, was an atemberaubend Neuem dieses Ursprünglichste, diese Quelle aller Quellen uns schenkt.

Man kann darüber streiten, ob der Alte Bund „alt“ genannt werden dürfe; daß der Neue „neu“ ist, daran kann man nicht zweifeln. Und das Neue Gebot ist nicht deswegen neu, weil es ein altes außer Kraft setzte, sondern weil der, der sich auf es einlaßt, selber neu wird und erfährt, wie neu das Leben Gottes, die Liebe, ist. Und das neue Lied, das wir einmal singen sollen und das jetzt schon anhebt, ist nicht deswegen neu, weil es alte Lieder abschafft, sondern weil vor der Quelle, die Gott selber ist, unser Herz zur Quelle wird, der sein Loblied so unmittelbar neu ent- [82] springt wie das Wort dem Herzen des Vaters. Gott singt in uns sein Lied – und was wir aus uns selber zu singen vermöchten, wäre demgegenüber alt.

Im Werk von Hans Urs von Balthasar ist uns die Quelle erschlossen, das, was älter ist, weil es neuer, neuer, weil es älter ist. Er ertastet die Neuigkeit der Quelle, vermittelt und erschließt sie im anbetenden und staunenden Nachdenken, er ist fähig, überall im Wüstenland Quellen zu entdecken – auch dort, wo hergebrachte Theologie sie kaum vermutet hätte. Über diese Neuheit im Denken Hans Urs von Balthasars möchte ich nicht handeln auf die Weise einer einläßlichen Analyse, einer rühmenden Würdigung, eines biographischen Nachgehens. Er hat es sich so gewünscht, und ich fühle mich dem verpflichtet. Und es gibt noch einen Grund, warum ich nicht einen Vortrag über Hans Urs von Balthasar halte, sondern einen für ihn und auf ihn hin. Die Quelle steht offen, so daß man aus ihr schöpfen kann. Aber dem Neuen wird nur gedankt durch ein Neues. Dem Wort gebührt eine Antwort, die versucht, aus sich selber das aufs neue entspringen zu lassen, was ihr durch das Wort geschenkt wurde, dem sie antwortet.