Die Suche nach dem Bruder

Das Phänomen der Bruderschaft*

[28] Bleiben wir zunächst einmal bei dem unmittelbar erfahrbaren familiären Phänomen der Bruderschaft, um von hier aus Brudersein überhaupt erklären zu können. Bruder, das heißt: der andere ist im selben Ursprung beheimatet, er ist aus derselben Liebe gezeugt. Bruderschaft ist Verwandtschaft im Ursprung – aber nicht so, wie eine äußere Ursache gleiche Wirkungen erzeugt, so daß also alle Geschwister, alle Brüder äußerlich oder innerlich gleich wären, Produkte wären, die sich gleichsehen, weil sie aus denselben Ursprungsbedingungen hervorkommen. Nein, denn dies ist das Ungeheure gerade beim Brudersein, daß die Brüder Menschen sind, daß sie Personen sind, daß sie sie selbst sind. Und ein jeder dieser Brüder, ist er selbst, ist er einmalig, ist er ganz allein, in dieser Ausschließlichkeit und Unmittelbarkeit und Unbedingtheit, in welcher ein Selbst sich selbst gehört. Wenn wir uns überlegen, was es heißt: Ich bin! dann ist es höchst erstaunlich, daß es neben uns noch einmal so etwas geben kann, daß ich nicht allein bin, sondern daß da ein anderer ist, der aus demselben Ursprung, in derselben Situation, mit demselben „Recht“ Ich sagen kann, der er selbst ist, genausogut wie ich selbst bin. Person sein, ich selbst, ich allein sein, ich als Einziger und Einmaliger sein – und doch zugleich neben anderen stehen: das ist die typische Situation des Menschen, und das ist brüderliche Situation. Sie ist geboren aus dem personalen Rang und zugleich daraus, daß der Mensch endliches leibhaftiges Wesen ist, eingelassen in die Schöpfung, eingelassen in Raum und Zeit, eingelassen in die stoffliche Welt, in der einer neben dem anderen steht, in der Menschen zusammenzählbar sind. Und das ist doch sonderbar, daß man Menschen, unwägbare, unverrechenbare Ein-[29]zelne zusammenzählen kann. Brüder sind zusammenzählbar, ein eigentümlicher Befund! Und was geschieht da? Nicht Unterschiedslosigkeit, aber in der Rückwendung auf den Ursprung sind für Brüder die Unterschiede aufgehoben, nicht ausgewischt, aber aufgehoben. Sie spielen keine Rolle mehr. Es gibt etwas, was sie als Brüder zusammenbindet, was sie gleichrangig, ebenbürtig nebeneinanderstellt. Und nur auf dem Boden dieser Ebenbürtigkeit begegnet uns ihre Verschiedenheit.

Beschränkt sich solche Bruderschaft indessen auf die Kinder, die von demselben Elternpaar gezeugt sind, ist es nicht möglich, daß auch ein anderer in der Stellung des Bruders zu mir stehe, der nicht physisch aus demselben Ursprung stammt? Ja, es gibt etwas wie Bruderschaft auch abseits der physischen Ursprungsgleichheit. Aber Brüderlichkeit besteht wesenhaft und auch in diesem Falle darin, daß der andere neben mir eingetaucht ist in denselben Ursprungsraum wie ich, daß er sein Sein verdankend und empfangend auf denselben Ursprung zurückbezieht wie ich, daß er mit mir zusammengehört in diese selbe bergende Sphäre der Heimat. Alle Brüderlichkeit hat ihr menschliches Urbild in der familiären Bruderschaft, die gründet auf demselben Ursprung, in der Atmosphäre der einen, beheimatenden Elterlichkeit. Blicken wir zuerst auf sie, um die innere Fülle der Bruderschaft zu verstehen.