Politik und Ethik

Das Politische, die Freiheit und die Macht

Wir versuchen eine erste Annäherung ans Politische. Sie entspricht jener, die wir anfänglich auf das Phänomen der Freiheit hin wählten: Freiheit als Machenkönnen, was ich will – Politik als gesellschaftliches Durchsetzenkönnen, was ich will. In diesem Kontext spielt eine Schlüsselrolle für das Politische das Phänomen [72] „Macht“.1 Wir blicken auf einige signifikante Punkte eines banalen Verständnisses von Politik als „Kunst der Macht“. Hier bedeutet Macht den Besitz und das Anwendenkönnen der Mittel, die den eigenen Willen durchsetzbar machen. Die politische Frage heißt in solchem Blickwinkel: Wie kann ich (können wir) es machen, daß mein (unser) Wille die Verhältnisse des Lebens und Zusammenlebens der Menschen regelt? Die Verhältnisse: dies meint die Lebensbedingungen, aber auch das Handeln und Verhalten innerhalb dieser Bedingungen, das sie so erhält oder verändert, wie es dem die Macht innehabenden Willen entspricht. Das Politische wäre die Kunst, die Mittel so zu konstellieren, daß sie der Durchsetzung und Realisierung des die Macht innehabenden Willens dienen.

Bereits in dieser vordergründigen Hinsicht zeigen sich Momente, die für ein differenzierteres und gemäßeres Verstehen des Politischen tragend werden. Macht ist nämlich, genauer besehen, auch hier schon nur meine (unsere) Macht, indem sie nicht nur „Macht über“, sondern auch „Macht für“ und schließlich „Macht mit“ ist.

„Macht über“ ist im Horizont des Politischen nicht nur von ihrem Sinn, sondern auch von ihrer Konsistenz als Macht her nur mächtig als „Macht für“. Wenn die Macht ganz und im ganzen nur auf ihre Selbsterhaltung aus wäre und nicht jene im Lebenkönnen und Zusammenleben-Können erhielte, über welche sie Macht ist, dann nähme diese Macht sich ihr eigenes Substrat weg, sie wäre in letzter Konsequenz Selbstzerstörung. Macht kann nur bestehen, indem sie Möglichkeiten für jene schafft und gewährleistet, über die sie ausgeübt wird. Dies führt dazu, daß jede Macht im Grunde genötigt ist, sich als dem Wohl aller, dem bonum commune dienlich zu interpretieren.

Eine konsequente Fortsetzung dieses Ansatzes: „Macht für“ ist „Macht mit“. Warum ist es „politisch“, dafür zu werben, daß eigene Machtausübung dem Wohl aller und des Ganzen dient? Weil jene, über die Macht mächtig ist, – zunächst scheint es: willig oder widerwillig, frei oder unfrei – „mitmachen“ müssen. Macht ist, nach dem vorgeschlagenen Einstiegsverständnis, Übersetzung des eigenen Willens nicht nur in objektive Bedingungen, sondern auch in Vollzüge des Lebens und Zusammenlebens jener, über die Macht ausgeübt wird. So aber hat politische Macht die innerlich notwendige Tendenz, Macht über die Freiheit derer zu werden, die sie „bemächtigt“. Macht über Freiheit kann aber letztlich nur bestehen als Macht in der Freiheit und mit der Freiheit. Freie Zustimmung zum „Programm“ des mächtigen Willens ist das immanente Ziel von Macht, sofern sie nicht sich selber verkennt und um ihr eigenes Mächtigsein bringt. Der Widerstand des Willens der Bemächtigten gegen den bemächtigenden Willen ist eine Krise und Grenze der Macht. Die Gestaltungskraft der Macht ist am größten, wo sie mit und aus der Freiheit der Partner her zu gestalten vermag, wo sie als Gestaltung des Willens der Partner koinzidiert mit ihrer Selbstgestaltung und Selbstbestimmung. Macht gibt sich daher mit innerer Folgerichtigkeit selbst je aus als befreiend, als getragen von Zustimmung.

[73] Macht ist also von ihrem Wesensanspruch her jene Fülle der Freiheit, in welcher diese die Wirklichkeit vermag. Dies aber hebt das Politische auf eine andere Ebene als jene der bloßen Macht. Bloße Macht wäre nicht ganze und wahre Macht, denn sie wäre Macht, der die Spitze der Wirklichkeit, eben die Freiheit der anderen, die Zustimmung und Übereinstimmung entginge. Politische Macht, Macht, die also der Freiheit und Übereinstimmung aller dient und aus ihr und in ihr die Bedingungen des Lebens und Zusammenlebens gewährleistet und gestaltet, ist selber partizipativ, von sich her auf das Mitwirken und Zusammenwirken aller angelegt. Sie ist perichoretische Macht, Macht, die sich im Mächtigsein der je anderen mag und vermag, Macht, die sowohl die Freiheit der je anderen wie das Ganze in sich selber trägt.

Um nochmals ein theologisches Motiv aus der Trinitätslehre zu bemühen: Die Wirkungen Gottes nach außen, also die Ausübung seiner Macht, geschehen so, daß jede Wirkung die gemeinsame Wirkung aller drei Personen ist, an welcher aber jede als sie selbst, in ihrer Relation zu den anderen, teilhat.

Es muß allerdings auch hier der analoge und somit begrenzende Charakter der Endlichkeit von Politik, der Endlichkeit geschaffener Freiheit und ihrer Macht, in Anschlag gebracht werden. Endliche Freiheit steht von ihrem Ursprung her nicht inne in jener absoluten Koinzidenz von Freiheit und Notwendigkeit, welche der göttlichen Freiheit eignet. Sie hat das Risiko bei sich, auch sich versagen und somit sich verfehlen zu können. Ihr Gelingen ist nicht „automatisch“, es geschieht im Wagnis. Dies hat für das Politische zur Folge, daß es keine „absolut sichere“, unfehlbar gelingende Politik geben kann. Eine weitere Folge: Politik muß mit der Begrenztheit ihrer endlichen Vorgaben rechnen, sich auf nicht unerschöpfliche Ressourcen oder gar widerständige Gegebenheiten einstellen und sie ins Maximum der Möglichkeiten für freie Gestaltung zu verwandeln suchen.

Die schließlich härteste Konsequenz: Politik muß, um die ganze Zustimmung und Kooperation werbend, aber auch mit Dissens und Widerstand endlicher Freiheit rechnen und angesichts dessen die Bedingungen von Leben und Zusammenleben aller regeln, freilich auch hier dem Optimum und Maximum gemeinsamer Freiheit verpflichtet. Theologisch gesprochen: Das Politische steht unter dem eschatologischen Vorbehalt. Dies bedeutet: In der Geschichte läßt sich der vollkommene Einklang aller endlichen Freiheiten miteinander und mit den Gegebenheiten, unter denen Leben, Freiheit, Zusammenleben und gemeinsame Freiheit sich realisieren lassen, nicht herstellen. Wohl aber ist Politik darauf angelegt, die Freiheit eines jeden, den Zusammenklang der Freiheiten in Wechselwirkung und Übereinstimmung und die Gegebenheiten als Möglichkeiten des Lebens, des Zusammenlebens und der Freiheit immer mehr miteinander ins Spiel, in die Balance, in die gleichzeitige Gewähr zu bringen.


  1. Zu einer Phänomenologie und Deutung der Macht vgl. besonders: Welte, Bernhard: Über das Wesen und den rechten Gebrauch der Macht. Eine philosophische Untersuchung und eine theologische These dazu, Freiburg i. Br. 1960. ↩︎