Unterscheidungen
Das Politische und das Christliche*
Es ging unserem Nachdenken ums Politische als solches. Wenn nun das Politische sich uns als Kunst gezeigt hat, so ist das Resultat naturgemäß kein anderes als das einer jeden Analyse von Kunst: Sie ersetzt nicht die Kunst, sondern gibt sie an sich selbst, an ihr unvorhersehbares und unplanbares Ereignis frei. Kunst gelingt dem Künstler nicht leichter, wenn ein gemäßes „Verständnis“ von Kunst entwickelt wird. Politik fällt dem Politiker nicht leichter, wenn das Phänomen des Politischen unverstellt in den Blick kommt – aber vielleicht fällt es anderen leichter, den Politiker und das Politische zu verstehen, wenn sein Unterschied sich formuliert.
[125] Der Unterschied des Politischen muß von uns indessen noch daraufhin befragt werden, was er für das Verständnis und den Vollzug des Christlichen sagt. Wie schon betont, wäre es verkehrt, das Christliche und das Politische einander gleichzusetzen. Zur inneren Struktur des Politischen gehören indessen Momente, in denen die Eigenstruktur des Christlichen sich spiegelt, sich spiegelt freilich derart, daß darin gerade die „Abweichung“, die Eigengesetzlichkeit des Christlichen zutage tritt.
Der Angelpunkt des Politischen ist die Freiheit. Das Politische ist die Kunst, Freiheit als gemeinsame in jene Gestalt zu führen, in welcher Sein, Selbstsein und Mitsein ihre sich gegenseitig wahrende und gewährende Ordnung finden. Auch in der Mitte des Christlichen steht Freiheit, jene Freiheit, zu der Christus uns befreit hat (vgl. Gal 5,1). Diese Freiheit ist nichts neben der Freiheit des Menschen als solche, sondern sie selbst, sie selbst aber aus einem Ursprung und zu einem Ziel hin, die nicht im Vermögen der menschlichen Freiheit liegen. Auch zur christlichen Freiheit gehört es, gemeinsame Freiheit zu sein. Ihr gemeinsamer Vollzug steht unter vergleichbaren Ansprüchen wie das Politische: Alles, was ist, alle Dimensionen des Menschlichen müssen gewahrt und gewährleistet, sie müssen an sich selbst freigegeben und zugleich in ihre Einheit miteinander geführt werden – darin erweist sich christliche Freiheit als Präsenz der alles an sich freigebenden Freiheit des schaffenden und erlösenden Gottes. Christlicher Freiheit eignet so auch zugleich ein epochetischer Zug: als Verhältnis zu allem ist sie nicht Zuständigkeit für alles, sondern auf das, was neben und außer ihr ist, vor allem aber auf den, von dem her sie Freiheit ist, verwiesen. Christliche Freiheit hat schließlich Sein, Selbstsein und Mitsein zu Fundamenten ihrer gemeinsamen Ordnung.
Sein, Selbstsein und Mitsein zeigen sich hier freilich in einer anderen Perspektive, und gerade sie macht den Unterschied des Christlichen zum Politischen in aller Entsprechung der Struktur deutlich. „Sein“ wird christlich auf die Huld Gottes hin gelesen, die sich gibt. Ihre Gegebenheit in Jesus Christus, in der Verbindung mit ihm durch die Kirche, in der jeden einzelnen, der sich befreien [126] läßt, befreienden Gnade, in Anspruch und Geschenk von allem, was uns begegnet, setzt christlicher Freiheit das Maß. Solches Gegebensein bestimmt aber auch das „Selbstsein“ christlicher Freiheit neu. Sie ist, indem sie sich gibt. Das fundamentale „Recht“ christlicher Freiheit ist das Recht zu lieben. Maß dieser Liebe ist der, der sie durch seine Liebe bis zum Tod begründet hat. Auch die Gaben des Geistes Jesu, die für den Aufbau der Kirche als der Gemeinschaft der von Christus Befreiten gegeben sind, bewähren sich darin, daß sie Gaben zum Dienst, Gaben zur Weitergabe, ja Gaben zur Weggabe sind. So aber läßt sich das Selbstsein christlicher Freiheit nicht trennen von jenem „Mitsein“, dem als höchstes Maß die Gemeinschaft gesetzt ist, als die Gott sich selbst in Jesus Christus offenbart: Einssein, wie der Vater und der Sohn eins sind im einen Geist (vgl. Joh 17,21). Göttliches Selbstsein ist nicht stehende, nur auf sich bezogene Selbstidentität, göttliches Selbstsein „ist“ Mitsein, ist totales Wegsein von sich selbst, das sich im anderen findet und in ihm über sich selbst hinaus öffnet, um uns Gemeinschaft zu geben mit sich, Gemeinschaft, in der unser eigenes Selbstsein Mitsein wird.
Es wäre eine verkürzende Konsequenz aus diesem Unterschied des Christlichen, für die Gemeinschaft der Christen, für die Kirche abzuleiten, daß es in ihr keine anderen Strukturen der Kommunikation geben dürfe als jene des dreifaltigen Lebens, das absolute Freiheit als absolute Liebe ist. Es wäre aber nicht minder eine fatale Konsequenz aus der Verwiesenheit des Christlichen in die Bedingungen unserer Geschichte und unserer Gesellschaft, seine Strukturen „politisieren“ zu wollen. Kirchliche Strukturen sind die geschichtliche Ironie auf das, was sie meinen:1 Sie sind – im Feld menschlicher Mittelbarkeit, geschichtlicher Abhängigkeit, gesellschaftlicher Relation zu Fakten und Umständen – der Raum, in dem göttliche Freiheit sich dem Menschen anbietet und den Menschen anruft. Das erfordert Sich-Stellen unter Gegebenheiten – aber diese Gegebenheiten sind letztlich die der göttlichen Liebe. Das erfordert den Mut zum Selbstsein, das sich äußert, das seine eigene Gabe ins Spiel bringt – aber letztlich indem es sich verschenkt, indem es nicht auf sich besteht. Das erfordert Mitsein, radikale Brü- [127] derlichkeit – die aber nicht zurückschreckt vor der Brüderlichkeit Jesu, der uns das Wort seiner Hoheit zumutet und zugleich jene äußerste Demut, in welcher er jene seine Brüder nennt, die ihn verlassen und verleugnet haben (vgl. Joh 20,17). Entzögen Christen sich solcher Spannung, so begäbe sich unter ihnen nicht nur dasselbe wie dort, wo die Flucht vor dem Politischen in den Schein absoluter Rationalität, in die Entschuldigung der Mehrheit, in den Trug der Ideologie führt; es unterbliebe das Zeugnis, das Christen in der Gesellschaft für jene Freiheit geben müssen, die die Politik allein nicht erreicht und die doch immer neu Politik ermöglicht. Denn wer im Glauben an eine unüberholbare Liebe Gottes zum Menschen selbst die Freiheit zur Liebe gewinnt, der wird in ihr jene Ermächtigung und Ermutigung entdecken, deren – über alle Enttäuschungen, Gefährdungen und Aporien hinaus – gerade die Kunst des Politischen bedarf, die Kunst, menschliche Freiheit gemeinsam in den Zwängen der Endlichkeit zu realisieren.
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Vgl. Hemmerle, Klaus: Gemeinschaft des Zeugnisses: Wandlungen im kirchlichen Institutionswesen, in: Färber, Karl (Hg.): Krise der Kirche – Chance des Glaubens, Frankfurt a. M. 1968. ↩︎