Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Das rein Seiende oder Objekt

a) Das Mitgesetztsein des rein Seienden oder Objektes im gedachten Urgedanken
Um die Grundbestimmungen reinen Denkens zu entdecken, setzten wir zunächst beim eigenen Vollzug menschlichen Denkens an und versuchten, durch ihn hindurch auf die genetische Struktur des Denkens als eines solchen im Verständnis Schellings zu blicken. Die Richtung der Reflexion unseres Gedankens auf seinen Ursprung hin erschloß uns also die Möglichkeit, in der entgegensetzten Richtung, vom Ursprung, vom Denken selbst her sein primum cogitabile zu denken.

Ein entsprechend doppelter Zugang soll uns nunmehr von dem Urgedanken des Subjekts oder Seinkönnenden zur zweiten Bestimmung des reinen Denkens geleiten. Wir schauen zunächst darauf, wie der gedachte erste Gedanke reinen Denkens den notwendigen zweiten mittelbar bereits gedacht hat, um sodann umgekehrt vom Denken des ersten Gedankens den notwendigen Fortgang zum Denken des zweiten hin, gemäß der ermittelten Methode reinen Denkens, zu erhellen.

Wieso nun haben wir im Denken des anfänglichen Nichts aller Bestimmung, das mit der ersten Bestimmung des reinen Denkens [182] koinzidiert und sich als das Subjekt oder Seinkönnende zeigt, bereits eine zweite Bestimmung des Denkens gesetzt, und welches ist diese Bestimmung?

Wir haben von einem beliebigen Gedanken sein Gedachtes hinweggenommen, um seiner Urständlichkeit und darin der Urständlichkeit des Denkens allgemein ansichtig zu werden. Diese Urständlichkeit hat sich als Subjekt oder Seinkönnendes interpretiert. Diese Anfänglichkeit und dieses Anfängliche des Denkens halten sich indessen nicht von selbst fest, sondern sind de facto überwachsen von dem konkret je schon Gedachten. Gleichwohl ist diese Urständlichkeit kein nichtiges Nichts, nicht bloß je schon überholter Moment des Denkens. Daß das Denken sich als Denken von seinem Gedachten unterscheiden kann, ja daß es überhaupt noch denken kann und nicht je schon aufgebraucht ist in die Gedachtheit aller möglichen Gedanken, bestätigt den im geschehenden Denken weitertragenden und weiterwährenden Grund: eben das Subjekt, das Seinkönnende.

Dasselbe vom Gedachten her gesagt: Indem dies oder jenes gedacht, somit als seiend gedacht ist, ist das, was sein kann, doch noch nicht zu Ende gedacht und erschöpft, der Grund des Subjektes und Seinkönnenden west in unserem Denken weiter, sofern immer neu und unverbraucht zu Denkendes in den Gedanken drängt.

Die Operation unseres Denkens, die zuerst einen gedachten Gedanken seiner Bestimmtheiten entkleidete und dann seinen Urstand und in ihm den des Denkens festhielt, ist also nicht künstlich, nicht gegen den Ductus des Denkens. Vielmehr entdecken wir den Urstand des Denkens bzw. des Seienden vor unserem zusätzlich-zufälligen Tun bereits zurückgehalten. Um das, was Subjekt und Seinkönnendes als solches zurückhält, geht es uns, es ist das mittelbar Mitgedachte, indem Subjekt und Seinkönnendes gedacht sind.

Was also hält das Seinkönnende vom Umschlag ins Sein zurück, bzw. was hält es davor zurück, umschlagen zu müssen und im Umschlag sich zu erschöpfen? Was – dies heißt dasselbe – hält das Subjekt vor dem Fortriß in die vielen Objekte zurück?

Wir halten uns zunächst ans „Können“ als dynamisch anschauliches Modell. [183] Können ist nach vorne, auf seine Verwirklichung zu orientiert.

Was kommt zu dieser Orientierung immanent hinzu, damit Können als solches gewahrt und gehalten sei?

Wir schauen nicht hinter das Können zurück, auf die Bedingung eines allem Können vorlaufenden Seins, auf den alle Potenz tragenden Akt, sondern in die inneren Verhältnisse von Können als potentia activa hinein, mögen diese auch jene genannte, das Können transzendierende Beziehung immanent spiegeln.

Können, das nichts in sich hätte, könnte nichts, Können hat einen Gehalt, sein Gehalt allein kann es im Können halten. Es ist Können, wenn sein Gehalt ihm etwas ist, es ist Können als Sein enthaltend, es ist Können durch immanentes Sein. Können hat etwas in sich, was es kann, heißt soviel wie: Können ist etwas in sich, Können ist, was es kann. Sofern Können „potentiell“ und also „labil“ ist, hin ist auf einen anderen Status als es selbst, sofern es ein Noch-nicht besagt, unterscheidet es sich von sich selbst als Gehalt, von dem, was es kann. Das Was seines Könnens bleibt, verändert sich nicht, drängt nicht von sich weg, sondern hält sich durch. Dieses gekonnte Was des Könnens, das es im Können hält, dieses sein Bleibendes ist sein immanentes „Sein“.

Von „Sein“ ist hier indessen auf andere Weise gesprochen als dort, wo von jenem geredet wird, was aus dem Können ins Sein tritt. Das nach und aus dem Können entstehende Sein des Gekonnten ist anderer Art als das Sein des Gekonnten im ruhenden Können. In einer Hinsicht läßt sich sagen: Das Sein des Gekonnten im ruhenden Können ist nicht wirklich, steht vor der Verwirklichung – dann nämlich, wenn Wirklichkeit eben als Verwirklichtheit, als Hervortritt aus der Möglichkeit verstanden wird. In der anderen Hinsicht aber gilt: Das Sein des Gekonnten im ruhenden Können ist Wirklichkeit, es ist, was das Können bloß kann, ist in sich ungemindert und ungeschmälert, während das Verwirklichte eo ipso gemischt ist aus Sein und Nichtsein.

Was heißt nun das bislang Ausgeführte, wenn es unmittelbar am Urstand des Gedankens und so zugleich am Urstand des Gedachten, des Seienden angeschaut wird? Die anfängliche Offenheit des Denkens zu allem hin, dies, daß alles sein kann, der schweigende Hinblick auf die unverbrauchte Weite des Seins hat diese Weite in sich, [184] das heißt also: ist diese Weite in sich: Der Hinblick blickt hin, der Horizont umfängt, der Boden breitet sich aus, die reine Bezogenheit über sich hinaus ist ebenso reine Identität mit sich selbst.

Aber was ist das Was des Könnens im radikalen Falle eben der Anfänglichkeit des primum cogitabile, was ist das „Sein“ des Seinkönnenden und Subjektes schlechthin? Nichts anderes als das bereits im Subjekt oder Seinkönnenden Entdeckte, nichts anderes als die unverbrauchte Anfänglichkeit, Offenheit, reine Bödigkeit selbst, nichts anderes als das anfängliche Nichts, als die Verschwiegenheit des Alles im Urstand also.

Nichts anderes, aber doch anders. Dasselbe, was zunächst als Noch-nicht begegnete, als Wegblick des Hinblicks von sich, ist hier das Jetzt des Noch-nicht, das ihm erst gewährt, „noch nicht“ zu sein, im Noch-nicht also das zu sein, was – auf andere Weise – noch nicht ist.

Die erste Bestimmung des Denkens und seines Gedachten trägt, sofern sie gedacht, vom Denken festgehalten ist – und nur so kann sie unserem Vollzug begegnen –, darin also bereits eine zweite in sich. Wie sollen wir sie nennen?

Das, was die erste Bestimmung, was der Hinblick des Urstandes in sich trägt, ist jenes, was Denken zum Denken macht: Sein schlechthin. Das „Nichts“ der Urständlichkeit ist so groß wie alles Sein, das sein kann, es ist das Seinkönnen an sich selbst. Es trägt als Seinkönnen das Sein in sich als die gekonnte und das Können konstituierende, richtende und haltende Wirklichkeit. Im Seinkönnenden ist so als die zweite Bestimmung mitgesetzt: das rein Seiende 1.

Seine formale Stellung ist nicht mehr die der Urständlichkeit an sich selbst, das rein Seiende wird vielmehr erst von dieser Urständlichkeit, von dieser Subjektivität in sich gefunden und entdeckt, setzt also sie als Zugang voraus. Indem es aber der Urständlichkeit als ihr eigener Gehalt aufgeht, geht es ihr auf als die mit ihr identische Gegenständlichkeit, als das Objekt schlechthin, das, in der anderen Richtung als die vielen Objekte liegend, das Subjekt als solches gerade wahrt und nicht untergehen läßt in die vielen Objekte.

[185] Rein Seiendes und Objekt sind die nur mittelbar aufzufindenden zweiten Bestimmungen des Seienden, wie es dem reinen Denken aufgeht.

Sie sind aufs erste ebenso, ja noch mehr, mißverständlich wie die Bezeichnung Subjekt für die erste Bestimmung: dann nämlich, wenn sie vom Urstand des Könnens bzw. Subjektes hinweg nach vorne, aufs Verwirklichte zu oder auch hinter das Seiende und das Denken schlechthin zurück aufs absolute Prinzip zu, statt ins Innere des Denkens bzw. des Seienden hinein ausgesagt werden.

Objekt meint hier also weder ein durch das Subjekt aus sich Setzbares, eine zu ihm äußerlich hinzukommende, nachträgliche Entgegensetzung noch auch das absolute Prius als das alles Denken außer sich setzende Undenkbare, das Schelling einmal als das eigentliche Objekt des Denkens („quod se objicit“) bezeichnet2. Objekt meint in unserem Zusammenhang vielmehr den das Subjekt als solches in seiner Subjektivität haltenden, in ihm verschwiegen anwesenden „Gehalt“, Gegenständlichkeit als das wahrende Innen der Urständlichkeit.

Das rein Seiende meint entsprechend hier nicht verwirklichte Wirklichkeit, aber auch nicht die absolute Wirklichkeit als das unvordenkliche Prius, das nur ohne alles Was, in der Ekstase und Umkehrung der Vernunft zu denken ist, vielmehr steht die „Wirklichkeit“ des rein Seienden im reinen Denken selbst auf der Seite des Was, des Denkens, sie ist der essentielle Grundgehalt dessen, was ist, vor, außer und über aller Besonderung, die stille Fülle des Was, in der die wirkliche Wirklichkeit sich als in ihrem reinen Anderen spiegelt und die ihrerseits diese Urwirklichkeit auf prädikative Weise „meint“. In dieser Richtung erklärt sich [sic!] Schelling selbst3.

b) Der dialektische Fortgang des reinen Denkens zur zweiten Grundbestimmung
Wie zeigt sich der Rückgang unseres Gedankens von der ersten in die ihr innerliche zweite Grundbestimmung reinen Denkens, wenn er in der umgekehrten Richtung, als Weg des reinen Denkens zu seiner zweiten Bestimmung gegangen wird?

[186] Wir kennen Schellings Experiment des Denkens, das entdeckt, daß dem Gedanken des Subjekts mit keinem anderen Denkbaren zuvorzukommen sei4. Dieses Experiment hat für ihn aber noch eine andere Seite. Indem das Denken nichts früher denken kann als das Subjekt, denkt es das Subjekt als solches, von dem aus es weiterdenken muß. Das Subjekt hat nichts es Tragendes vor sich, aber es hat, als der reine Verhalt des Denkens, das Verhaltene, insofern Negierte, nach sich. Subjekt ist immer Subjekt von …, ist über sich hinausbezogen. Darin, Subjekt allein zu setzen, „liegt eine Beraubung (στέρησις), die uns nicht ruhen läßt, sondern dieses (das nur an sich seiende) gesetzt, müssen wir auch das andere setzen“5. Doch eben: welches Andere?

Um das von der nunmehr eingeschlagenen Richtung aus zu sehen, vergegenwärtigen wir uns die Methode des reinen Denkens.

Das reine Denken setzt, sein Denkbares setzend, zuerst reine Urständlichkeit, reinen Hinblick, reine Potenz: es kann sein, was immer sei. Darin ist nicht ein Seiendes, sondern das Seiende gesetzt, gesetzt aber als seinkönnend, als Subjekt. Dieses Setzen des Seienden als Subjekt oder Seinkönnendes ist für Schelling die Urerfahrung des Denkens mit sich selbst. Sie trägt in sich jedoch eine Spannung: sie setzt Subjekt, Seinkönnendes nicht beziehungslos, sondern setzt darin, was ist, das Seiende. Aber hat sie dieses ganz gesetzt?

Das Denken setzt nicht nur, sondern findet sein Gesetztes, dieses kommt aus dem Setzen und im Setzen aufs Sehen des Denkens zu, somit aber aufs Denken zurück aus der Richtung, in die es diese Bestimmung setzte6. Die Richtung ist der Hinblick des Denkens selbst, der Hinblick aufs Sein, der in Schellings entwickeltem Verständnis das Seiende setzt und sieht. Indem das Denken in die Richtung des Seienden sieht, sieht es als erstes also das Subjekt oder Seinkönnende, es sieht dieses als das Seiende, bzw. sieht das Seiende als Subjekt oder Seinkönnendes.

In diesem „als“ steckt nun die Differenz, die Differenz der Richtung und dessen, was, in diese Richtung gesetzt, aus ihr aufs Denken [187] zurückkommt: Erfüllt es diese Richtung? Ist das Seiende nur dieses, ist nur dieses schon das Seiende?

Die Möglichkeit der Aufhebung der ersten Bestimmung tritt formal so in den Blick. Ob sie in der Tat notwendig wird, muß sich am Gegenexperiment entscheiden: Versuchen wir zu denken, das Subjekt oder Seinkönnende sei schon „ganz“ und ausschließlich das Seiende. Schon dann wäre das Seinkönnende oder Subjekt mehr als bloß es selbst; die Beziehung aufs Seiende, die diese Bestimmung erst setzen ließ und in ihr konstitutiv enthalten ist, treibt von selbst weiter. In welche Richtung?

Das Seinkönnende ist das Seiende, müßte gesagt werden können, wenn es das Seiende erschöpft, und muß gesagt werden kÖnnen, sofern das Seiende es urständlich ist. Es kann aber nur gesagt werden, wenn mehr gesagt werden darf als nur dies7. Denn das „ist“ sagt, vom Sein-könnenden gesagt, gerade mehr als Seinkönnendes: es sagt das im Seinkönnenden mit der Dynamik des „Noch-nicht“ Gesetzte in die Identität mit sich selbst hinein. Das Seinkönnende ist ... Gleichviel selbst, worauf dieses „ist“ hinzielte, und zumal hier, wo das „ist“ in völliger Unbestimmtheit das Hinzielen als solches und somit das Seinkönnende als solches sagt, wo es also auf die Weite schlechthin, auf alles schlechthin hinzielt und gerade dadurch auf alles hinzielt, daß es alles in der Reinheit seines Hinzielens verschweigt: das „ist“, und das heißt die Hinsicht aufs Seiende, von der her das Seinkönnende ja so nur heißen kann, die mit ihm also identisch ist, trägt ins Seinkönnende etwas – sollen wir sagen: ein anderes oder dasselbe? – ein, was dem Denken einen weiteren Namen aufdrängt über den des Seinkönnenden hinaus.

Das ins „ist“ gesetzte, als das Seiende gesetzte Seinkönnende ist in zweiter Instanz das rein Seiende, ist als prädikabel von sich selbst das gehaltlich identische schlechthin Andere seiner selbst, denn es ist eben „gehaltlich“ dasselbe, also schlechthin anders dasselbe wie das Seinkönnende, und ist „dasselbe“, ist also auf stabile Weise, als Stabilität das, was im Seinkönnenden als reine Labilität gesagt war.

Das Experiment zeigt: Das Seinkönnende ist, für sich allein genommen, noch nicht das Seiende, treibt also über sich hinaus. Es ist [188] aber, sofern und sobald und wie auch immer es nur das Seinkönnende ist, das Seiende, und eben darum, weil es das Seinde ist, ist dieses mehr als nur seinkönnend.

Das Experiment hätte also noch um eine Stufe weiter auf die Anfänglichkeit des Seinkönnenden reduziert werden können, ja diese Reduktion ist im Grunde bereits in unserem Experiment geschehen. Wir könnten vom Satz: „Das Seinkönnende ist das Seiende“ zurückstoßen auf den Satz: „Das Seinkönnende ist das Seinkönnende“, und in diesem „ist“ wäre dasselbe gesagt, was wir im Blick aufs Seiende sagten. Ja, das „ist“ hätte weggelassen werden dürfen; es genügt einfach zu sagen „das Seinkönnende“, um es in seiner es zugleich als Anderes sagenden Identität aufgehen zu lassen.

Es bestätigt sich des weiteren aber, daß in allen möglichen Stufen des Experimentes auch die zweite Bestimmung sich von selbst auf dieselbe Weise artikuliert. Seinkönnendes hat als solches das rein Seiende, Potenz als solche den Akt, Labilität als solche die Stabilität, Verhalt als solcher den Gehalt, Urständlichkeit als solche die Gegenständlichkeit, Subjekt als solches das Objekt bei, besser: in oder nach, am genauesten: nach innen nach sich. Nach sich: denn die Unausweichlichkeit, diese Bestimmung zu setzen, hat die erste, urständliche, nicht zu unterbietende zur Voraussetzung. Nach innen nach sich: denn der Weg, den das Denken geht, indem es seine erste Bestimmung setzt, aufhebt und so eine zweite setzt, führt vom verwirklichten Sein, von dem, was außerhalb des bloßen Denkens ist, zurück und in seinen Inhalt, ins ihm vertraute und eingeborene Wesen schlechthin hinein. Das rein Seiende hat keinen Hinblick auf verwirklichtes Sein, kein unmittelbares Verhältnis zum (so verstandenen) Sein, wie Schelling sagt8, es ist das bloß mittelbar sein Könnende9.

Gemäß der Methode des reinen Denkens, die sich aus Setzen und Aufheben erbildet, in der aber aufs setzende Schauen nicht nur das Aufheben, sondern auf dieses auch wieder der erfahrende Hinblick folgt, bleibt uns nach der dialektischen Ermittlung noch die innere Qualität des rein Seienden oder Objektes, seine zu schauende Präsenz aufzuzeigen.

[189] In der Tat läßt sich das Denken, das sich in seinem noch „nichts“ denkenden Urstand an sich hält, zugleich als ein selbstvergessen sich entwandtes Denken, als ein in die reine Offenheit verlorenes, sie, ihre allumfassende Einheit vollziehendes Denken anschauen. Denken, das in der Abkehr von den vielerlei Gedanken es selbst, das Denken ist, präsentiert sich so beidemal in von außen sich absolut gleichender Stille, die aber jedesmal das reine Gegenteil des andern Males bedeutet: In urständlicher Verhaltenheit ist das Denken mit „sich“ befaßt, es hält „sich“ zurück, ist Potenz seiner selbst, seiner vielen Denkbarkeiten, in die es außer seinem Verhalt hineinschnellte. Anders in der Verlorenheit in die innere Stille des in seinem Urstand geborgenen, unausgegliederten Alles, im Denken des „Nichts“, das alles in sich trägt – nicht als Zukunft wie der Urstand, sondern als differenzlose Einheit, als Gegenwart also. Hier denkt das Denken gerade nicht an sich, hier ist es für sich selbst nichts, ist sein Gedachtes ihm alles. Aber eben kein Gedachtes außer ihm in der verwirklichten Wirklichkeit, das „Außer“, in welches das Denken sich wendet, ist es selbst, aber es selbst ohne Rückblick auf sich selbst.

Dasselbe am Gedachten des reinen Denkens angeschaut: Es ist nicht dies oder jenes, sondern das Seiende schlechthin; schlechthin, aber ohne Zerstreuung in seine implizite Vielfalt. Auch hier begegnen wir zwei rein gegensätzlichen Gestalten desselben. Das eine-mal läßt sich das „Seiende“ in seiner Weite und Sammlung sagen in dem Satz: Alles kann sein. So erscheint es als der reine Hinblick alles umfangender und doch sich von allem enthaltender und sich allem als Horizont und Boden bereithaltender Gewärtigkeit.

Das anderemal läßt es sich sagen in dem „sachlich“ nichts anderes bedeutenden und doch gegensätzlich gestimmten und verfaßten Satz: Es ist, was ist. Hierin ist so wenig und so umgreifend alles Etwas umfangen wie im ersten Satz, aber es ist kein Verhältnis zu dem Ausgesagten (es kann sein) gesagt, sondern nur, abseits allen Verhältnisses, dieses selbst in sich selbst (es ist). Schelling nennt das Objekt, das Seiende in dieser zweiten Grundstellung: „außer sich das Seiende“10.

[190] Schelling schreitet diese qualitativen Unterschiede mit Bedacht aus, wenn er dies auch nur in scheinbar zufälligen, knappen Symbolen oder vom denkerischen Anlaß ins Bildliche abgelösten Schilderungen bezeugt.

Das entscheidende und für ihn kennzeichnende „Modell“ ist der Wille. Seine Aussagen, die das Denken und sein Gedachtes, das Seiende, zugleich im Blick haben, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der äußeren Gestalt, dem äußeren Effekt nach sind Seinkönnendes und rein Seiendes als solche nicht wollender, insofern sich seiner selbst nicht annehmender, unentzündet selbstloser Wille11.

Von innen her gesehen herrscht aber die schärfste Differenz zwischen beiden: Das Seinkönnende ist wollen könnender Wille, Prinzip der Selbstheit, das Entzündliche und Mobile als solches12. Das rein Seiende hingegen ist gerade nicht wollen könnender Wille, Wille, in dem kein Übergang zu einem Wollbaren angelegt ist, der rein in sich selber schwingt, selbstloser Wille13 nicht aufgrund eines Verzichtes, sondern von ihm her14. Das will sagen: es ist unverlierbarer Wille, der nicht an sich selbst potentiell und also gefährdet ist, sondern jenes, was im wollen könnenden Willen als das stabilisierende Element lebt, jenes reine „Ja“, aus dem das „Ja oder Nein“ der Unmittelbarkeit des Willens gehalten und ermächtigt, in dem es verankert, in sein Gleichgewicht gestellt ist.

Weiter weg vom faktischen Wollen als dieser unmittelbare Wille, ist der nicht wollen könnende gleichwohl, nur auf entgegengesetzte Weise, Wollen, er heißt Schelling das „rein Wollende“15. Er ist jener wesentliche Akt, jenes ungebeugte und ungetrübte, geradlinige Vorsichgehen des Wollens, das einfachhin ja sagt. Doch ja wozu? Dieses Wollen findet als sein Anderes und doch Selbes, das ihm die Selbstentwandtheit nicht raubt, sondern in dem es als seinem Anderen sie vollzieht, den wollen könnenden Willen, dessen Können so im Können gehalten, dessen Hunger und Begierde nach Übergang so gerade verhalten sind16. Das reine Wollen ist der Gehalt, der den [191] wollen könnenden Willen im Können verhält, aus dem her der wollen könnende Wille selbst an sich hält, sich vom gekonnten Wollen zurückhält17.

Unser zuvor entwickeltes Modell erklärt es. Das rein Seiende sagt dasselbe Wort wie das reine Wollen, es sagt: Ja, es ist, was ist. Und dieses Wort hält das Seinkönnende in seiner Ruhe und seinem Gleichgewicht. Das Seinkönnende, dessen Wesen Hinblick, Gewärtigkeit, Wollenkönnen ist, sagt an sich selbst: Ja oder nein, es kann sein. Auf das „Ja, es ist, was ist“ hin und von ihm her schwingt die innere Dynamik des „Ja oder nein, es kann sein“ sich ein in den gleichen Klang der großen, alles verhaltenden und enthaltenden Stille.

So sind die beiden ersten Gestalten des Seienden und des Denkens, die beiden Urbestimmungen des reinen Denkens nicht nur in sich selbst, phänomenal, in unsern Blick getreten, sondern hat sich aus diesem Hinblick auch ihr Verhältnis zueinander so bestätigt, wie es zuvor bereits als Struktur des Fortgangs von der ersten zur zweiten Bestimmung sich dem Denken dialektisch ergab[^45]. Gleichwohl erfordert dieses Verhältnis nochmals eine klärende Nachfrage, diese aber ist bereits der Weg des Denkens zur dritten Bestimmung reinen Denkens.


  1. S. bes. XIII 210–15, 77 u. passim; zu „Objekt“ vgl. bes. X 304, XI 289, 302 f., XIII 77. ↩︎

  2. Vgl. XIII 162. ↩︎

  3. S. XI 315. ↩︎

  4. S. XI 302. ↩︎

  5. Ebd. ↩︎

  6. Vgl. zu dieser Dynamik das System des transzendenten Idealismus, bes. III 389–394. ↩︎

  7. Bes. XIII 210 oben. ↩︎

  8. XIII 210. ↩︎

  9. XIII 213/14, 226. ↩︎

  10. XI 303. ↩︎

  11. Vgl. XIII 211/12, 213, 220. ↩︎

  12. Vgl. XIII 213. ↩︎

  13. Vgl. XIII 215. ↩︎

  14. Vgl. XIII 213. ↩︎

  15. XIII 214, vgl. 215, 219, 221. ↩︎

  16. Vgl. XI 294, XIII 213. ↩︎

  17. Vgl. XIII 214/15. ↩︎