Unterscheidungen

Das religiöse Zeugnis*

Eine Vorbemerkung nur scheinbar äußerlicher Art: Die Phänomenologie des religiösen Aktes kann zwar die Eigenständigkeit und Legitimität, das Zugehören der Religion zum Humanum aufzeigen; sie kann aber gleichwohl das, was sie ausweist, von dem wegrücken, dem sie es ausweist. Denn was als die Wesensgestalt des religiösen Aktes da erscheint, ist weit weg von den gängigen Erfahrungsmöglichkeiten unseres Daseins. Wir stehen heute oft in [76] einem eigentümlichen Dilemma: Auf der einen Seite zieht uns das, was wir an gelebter Religion sehen, nicht an; es ist nicht selten zu abgeflacht, zu routiniert, zu wenig überzeugend. Auf der anderen Seite wirkt die überzeugende Gestalt der Religion auf uns als Überforderung; wir glauben, da nicht mitzukönnen. Und doch wäre es fatal, eine Esoterik der wesentlichen Religion für wenige zu kultivieren oder aber das, was sich nicht machen läßt, in Gängigkeiten und Machbarkeiten zu übersetzen, um möglichst viele „dabeizuhaben“. Hier spielt die Rolle einer legitimen, ja unerläßlichen Vermittlung das „Zeugnis“.1

Wieso? Der Zeuge, im fundamentalen Sinn des Wortes, ist einer, der die den religiösen Akt konstituierende Erfahrung unmittelbar, als seine eigene, gemacht hat. Religiöser Vollzug schließt das epiphanische Element, die geschehende Begegnung mit dem Heiligen ein. Der Zeuge ist, immer in solch ursprünglichem Sinn genommen, Zeuge epiphanischen Geschehens, offenbarenden Aufgangs des heiligen Geheimnisses. Ihm läßt sich anmerken, daß er seiner Sache sicher ist, in ihm reicht seine Sache auch in die Welt der anderen hinein, die nicht in gleicher Unmittelbarkeit Partner derselben Erfahrung geworden sind. Ihm sich anzuschließen, um seinetwillen, auf sein Wort hin sich auf das zu verlassen, was er bezeugt, eröffnet dem eigenen Leben die Dimensionen, die es aus sich selbst nicht ohne weiteres erschließen könnte. Durch die glaubende Übereinstimmung mit dem Zeugen geschieht indessen auch die Einstimmung in seine Erfahrung, die Teilhabe an ihr, so daß sie, wenn auch vermittelt, eigene zu werden, im eigenen Vollzug Gestalt zu werden vermag. Ein bloß äußerer Anschluß an einen Zeugen, ohne daß dieser Anschluß sich umsetzte in den eigenen Vollzug, wäre von der Sache her, um die es geht, nicht denkbar. Denn es geht im religiösen Vollzug darum, das eigene Dasein loszulassen in die Verfügung des heiligen Ursprungs, in seinen Aufgang. Wenn ich dem Zeugen derart glaube, daß mein Leben dadurch wirklich sich gelassen und geborgen weiß in der unbedingten Gewähr, dann findet ja der religiöse Vollzug bereits statt. Er ist gerade dies: gelassenes, anheimgegebenes, im heiligen Geheimnis geborgenes Dasein. Wenn [77] aber der Anschluß an den Zeugen nur ein formales Bekenntnis, daß er recht habe, darstellt, so ist das „Rechthaben“ des Zeugen nicht als Zeugnis verstanden, sein Zeugnis ist nicht zum Zuge gekommen.

Unmittelbares Resultat dieser Vorüberlegung: Durch den lebendigen Kontakt mit dem religiösen Zeugnis ist religiöser Vollzug auch dort möglich, wo seiner Gestalt die Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit anhaftet. Ans heilige Geheimnis gelassene, ihm anvertraute Alltäglichkeit und Durchschnittlichkeit bleibt, was sie ist, und ist zugleich total verwandelt. Vielleicht darf hier ein Hinweis auf den „kleinen Weg“ der Therese von Lisieux gegeben sein.2

Doch was erbringt diese Vorbemerkung für unser Thema? Im Grunde den Ansatz. Christlicher Glaube ist Glaube an Gott, ist unmittelbarer Zutritt zu ihm. Aber er ist erschlossen – und diese Erschließung ist nie von ihm ablösbar – durch den „treuen Zeugen“ (Offb 1,5; 3,14), durch Jesus Christus. „Gott hat keiner jemals gesehen; der einziggeborene Sohn, der am Herzen des Vaters ruht, jener hat uns Kunde gebracht.“ (Joh 1,18). Die „vertikale“ Beziehung des Menschen zu Gott läßt sich, christlich gesehen, nicht trennen von der „horizontalen“ Beziehung zu Jesus Christus, der im Raum menschlichen Mitseins seine konstitutive Erfahrung des Vaters bezeugt und als Möglichkeit für uns erschlossen hat. Dieses Erschließen, das muß deutlich festgehalten werden, bedeutet im Selbstverständnis des Christlichen jedoch nicht das Finden einer Möglichkeit, die grundsätzlich jeder hätte finden können, faktisch aber nun gerade dieser gefunden hat. Die Möglichkeit der in Jesus erschlossenen Gottbegegnung ist nicht reproduzierbar im nur eigenen Vollzug, sondern erfordert, christlich gesehen, die Kommunikation mit dem Pneuma Christi.


  1. Vgl. Hemmerle, Klaus: Wahrheit und Zeugnis, in: Casper, Bernhard/Hemmerle, Klaus/Hünermann, Peter (Hg.): Theologie als Wissenschaft (Quaestiones disputatae 45), Freiburg i. Br. u. a. 1970, 54–72. ↩︎

  2. Balthasar, Hans Urs von: Therese von Lisieux, Köln 1950, 209–273. ↩︎