Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Das „Seiende“als Lichtung des absoluten Daß
Das Denken, das sich als Setzen des „Seienden“ versteht, entbirgt seine tiefste Problematik in der zuletzt bedachten Konsequenz, in der es sich selbst ins unvordenkliche Geheimnis als die anfängliche Helle dieses Geheimnisses einträgt.
Die mit dem Denken identischen Möglichkeiten, die es setzt, sind die Möglichkeiten des actus purus, die ihn der starren Aktualität entreißen und so zu dem machen, was er ist.
Dies hat zwei Seiten.
Sie sind, was Gott nur „an sich“ hat1, ihm an ihm selbst, ihm als actus purus also „zufällig“, unableitbar aus seinem Actus, „ein zu ihm Hinzugekommenes, ein συμβεβηχός“2. Zufällig aber sind sie ihm dennoch nur aufgrund einer „über ihn selbst hinausreichenden Notwendigkeit“, der des „Einsseins von Denken und Sein – diese sei das höchste Gesetz, und dessen Sinne dieser, daß was immer ist auch ein Verhältnis zum Begriff haben muß, was nichts ist, d. h. was kein Verhältnis zum Denken hat, auch nicht wahrhaft ist. – Gott enthält in sich nichts als das reine Daß des eigenen Seins; aber dieses, daß er ist, wäre keine Wahrheit, wenn er nicht Etwas wäre – Etwas freilich nicht im Sinne eines Seienden, aber des alles Seienden-, wenn er nicht ein Verhältnis zum Denken hätte, ein Verhältnis nicht zu einem Begriff, aber zum Begriff aller Begriffe, zur Idee“3.
Dieser die Summe aus einer langen Entwicklung ziehende späte Text Schellings (1850) interessiert hier noch nicht wegen seiner Folgen für das Gottesverständnis, wohl aber um dessentwillen, was er fürs Denken entscheidet, das sich als Setzen des Seienden im ausgeführten Sinne versteht.
[88] Es ist Denken, das Gott selbst, das Geheimnis, den Ursprung selbst nicht einfachhin vermag, Denken, das nach ihm kommt: „In dieser Einheit“ (sc. des Seins und des Denkens) „aber ist die Priorität nicht aufseiten des Denkens; das Sein ist das Erste, das Denken erst das Zweite oder Folgende.“4 Doch es ist als Denken die Bereitstellung der Bedingung, über der allein und auf die zu allein das Unbedingte wahrhaft unbedingt, Gott in Wahrheit Gott ist. Das „Seiende“, die „omnitudo realitatis“, das Denken also, das dieses Seiende, diese omnitudo realitatis in seinem unmittelbaren Selbstvollzug setzt, somit „ist“, werden zur Bedingung Gott es: sie sind von ihm einerseits weggerückt, das „Zufällige“, „Hinzukommende“ zum actus purus, eine nicht aus ihm ableitbare Hinzufügung zu ihm – und anderseits gerade so ihm auferlegt, als die Gewähr für seine Freiheit von ihnen und über ihnen insgeheim die Bedingung dieser Freiheit, die diese „von außen“ sich selbst freigibt, mag dieses Außen auch im Vollzug der Freiheit sich in sie hineingenommen und auf gehoben finden.
Die Unbegründbarkeit des Denkens durch sich selbst, sein Verweis aufs schlechthin Vorgängige führt Schelling so zur richtigen Konsequenz, daß das Denken, daß die Lichtung, daß die Möglichkeit des vielen, was ist, nicht aus dem undenklichen Woher abgeleitet werden können. Weil ihm das Denken aber das Denken, d. h. die konstitutive Setzung des Seienden (im erläuterten Sinne) ist, so wird das Denken, wird die Möglichkeit des Seienden zum Zu-Fall des Undenklichen, der gerade in diesem Zufall zu ihm selbst erst wahrhaft er selbst, somit aber selbst ein „seiender“ Gott wird. Von diesem Gott kann es in der 13. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung heißen: Die „Erscheinung der ersten Möglichkeit eines von ihm selbst verschiedenen Seins setzt ihn zuerst in Freiheit gegen die Notwendigkeit seines unvordenklichen Seins, das er nicht sich selbst gegeben hat, in dem er also nicht mit Freiheit oder mit Willen ist, jene Erscheinung gibt ihn also zuerst sich selbst, indem sie ihn von jener heiligen zwar und übernatürlichen, aber unverbrüchlichen Ananke befreit, in deren Armen er gleichsam zuerst empfangen worden.“5
[89] Dieser Text führt, wie sein Zusammenhang zeigt , über den von uns bedachten Grundverhalt hinaus, wirft auf ihn aber ein Licht: Das Denken, das sich zuletzt nicht als Andenken an sein gewährendes Woher, sondern als das Ausdenken der anfänglichen Helle dieses Woher versteht, versucht zu sagen, wie dieses Woher ohne das Denken wäre: blindes Daß, Ananke. Und es versucht, sein Verhältnis zu seiner Voraussetzung von dieser her zu bestimmen: es wird Zufall und Einfall des in diesem Zu- und Einfall erst gelichteten und von sich befreiten absoluten Daß. In solchem Versuch bestimmt das Denken jenes, von dem es doch selbst bestimmt ist, bricht es ein in seine eigene Vorgeschichte, aus der es allererst als Denken sich zukommt. So aber findet es nicht nur in sich selbst keinen Grund für sich, sondern letztlich auch keinen Grund in seinem ihm Vorausgesetzten mehr. Der „vorausgesetzte“, also doch: gesetzte „Actus überhaupt“ vermag nicht den Ursprung seiner Potenz, die das Denken oder, was dasselbe heißt, die „das Seiende“ ist. Diese Potenz ist erst nachträglich in den Selbstvollzug der Freiheit zu vermittelnder Zufall und Einfall.
Der von uns zuvor herangezogene Text der Abhandlung „über die Quelle der ewigen Wahrheiten“ will das Dilemma lösen, in welches das setzende Denken gerät, das sich als die anfängliche Helle des unbedingten Ursprungs und somit seine eigene Unbegründbarkeit als die Zufälligkeit dieser Helle zum Ursprung deutet. Dieser, der actus purus, kann „das Alles Begreifende nur sein infolge einer über ihn selbst hinausreichenden Notwendigkeit“, der „des Einsseins von Denken und Sein –, diese sei das höchste Gesetz“6.
Hier taucht eine Größe auf, die hinter das blinde Daß absoluter Voraussetzung und hinter den Zufall des dieses Daß lichtenden Denkens zurückführt und aus sich beide Urdaten nicht ableitet, aber einander zuspielt: das anfängliche Einssein von Sein und Denken, Daß und Helle. In diesem Einssein ist das Sein das Erste, das Denken das Folgende, folgend aber nicht aus dem in sich verschlossenen Sein, sondern aus der, somit in den Rang des wahrhaft Ersten rückenden Einheit von Sein und Denken selbst. Sie legt sich aus im Rückverweis des potentiellen Denkens auf sein es tragendes Daß.
[90] Ist hier die Befangenheit des Denkens von sich selbst durchstoßen, in welcher es setzend nur bis zu seiner Voraussetzung und somit nicht zum Geheimnis seiner Herkunft aus dem Undenklichen gelangte, das in kein Setzen und Fassen mehr einzubringen ist?
Dies könnte zunächst so scheinen: Das blinde absolute Daß, bis zu dem das Denken in der Selbstreflexion seiner Potentialität gelangte, ist Schelling nicht als solches schon Gott, sondern nur das Prius der Gottheit7, die „Vorläufigkeit“ Gottes. Gott selbst ist nicht der actus purus als Faktizität, sondern das naturā actus Seiende, die in der Wasfrage hinter die Vorläufigkeit der notwendigen Faktizität zurück.vermittelte natura necessaria8 will sagen: Gott selbst ist freie Selbstvermittlung, jenseits sowohl des bloßen Daß als auch des bloßen Denkens. Was sich nun als „Gesetz des Einsseins von Sein und Denken“ ergab, die aktiv gewährende Einheit des beiden, die gerade kein einzelnes Glied der Alternative Sein-Denken und auch nicht Ergebnis oder Summe der Glieder ist – sie ist Gott, wie sich demnach vermuten läßt.
Doch das Denken weiß sich selbst als das, was in dieser gewährenden Einheit gewußt werden muß, damit sie sich selber wisse, damit sie selbst diese Einheit und Gott Gott sei. Diesem Denken wird die gewährende Einheit von Sein und Denken zum „Gesetz“, das erst in ihm, im Denken, sich selbst hell wird, zum Gesetz, mit dessen Hilfe das Denken so der Selbstkonstitution Gottes zuzuschauen vermag, und das darin letztlich doch den Triumph des Denkens besiegelt.
Wieso ist dies der Fall? Weil das Denken sich als das Denken, und das heißt: als Denken des Seienden, als Inbegriff des Gott Möglichen, des Denkbaren seiner Gedanken versteht. Der Durchbruch des Denkens durch seinen Ansatz als Potentialität, als Setzung des Seienden, als Lichtung Gottes nimmt sich wieder in diesen Ansatz zurück.