Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Das Subjekt-Objekt

a) Der erfahrende Zugang aus unserem Denken
Tragen wir das am Denken selbst und so am Seienden bislang Gefundene in die Zugangssituation unseres Denkens zurück, so stoßen wir auf eine eigentümliche Selbsterfahrung dieses unseres Denkens. Sie entfaltet sich, indem wir die Frage stellen: Was ist nun unser Denken vor seinem Etwasdenken?

Wir haben darauf eine doppelte und darin zugleich mehr als eine nur doppelte Antwort: Unser Denken ist vor allem Etwasdenken reiner Rückhalt vor dem Denkbaren auf dieses hin, und es ist zugleich reines Enthalten alles Denkbaren in sich, formelhaft: Subjektivität und zugleich Objektivität. Zwei gegensätzliche Erfah- [192] rungen des Denkens bezeichnen dasselbe Erfahrene, eben unser Denken selbst vor seinem Etwasdenken.

Indem aber unser Denken sich selbst in beiden Erfahrungen erfährt, sich selbst zudem im selben Zustand, will sagen: im selben Verhältnis zu seinem Denkbaren, in dem der Voranfänglichkeit, erfährt es zugleich ein Drittes: eben das Zugleich.

Diese dritte Erfahrung hat selbst drei Stufen. Zunächst erfahren wir, wie von außen, den Gegensatz: hier Spannung, dort Ruhe, hier Ansichhalten, dort selbstentwandtes Vorsichgehen, hier verhaltene Urständlichkeit, dort Gehalt, Gegenständlichkeit. Sodann erfahren wir: Beides hat miteinander zu tun: ohne den inneren Gehalt könnte der Verhalt des Urstandes gar nicht gelingen, das Denken wäre, hätte es nicht „es in sich“, sich schon je entlaufen, es ist von sich als Gehalt in seinem Verhalt erst gehalten, sein Denken-können ist seinem Denken-sein subjiziert und nur so Können. Und darin holt sich, in dritter Stufe, diese Erfahrung zu sich selbst ein: Unser Denken ist geschehendes Verhältnis seiner selbst, ist in seiner Voranfänglichkeit weder bloßer Verhalt noch bloßer Gehalt seiner selbst, sondern ist im Denkenkönnen Denkensein, im Denkensein Denkenkönnen.

Dieser Zustand des Denkens vor dem Denken ist uns nur in Rückstoß aus dem bereits etwas denkenden Denken zugänglich. Denkenkönnen und Denkensein unseres Denkens halten und tragen sich durch in der Faktizität entsprungenen Denkens, weisen von ihm her zurück auf Denken als den Ursprung, und dieser Ursprung, diese Quelle geben sich zu erfahren als reiner Entsprung ihrer selbst, als reiner Gehalt ihrer selbst und mehr noch als das Zugleich von beidem; dieses Zugleich aber ist nicht Addition von Gehalt und Entsprung, sondern geschehendes Verhältnis, beides versammelnde Einheit.

Wir dürfen uns indessen nicht von der Vorstellung der auszubrechen genötigten Quelle irreführen lassen, gerade das Gegenteil des Sich-Äußernmüssens sollte uns ja vor Augen treten, die Identität von Denkensein und Denkenkönnen vor allem faktischen Denken ist und das beides zugleich umfängt, sein Denkensein dem tritt uns vor Augen, indem wir eben „unter“ dem Strom faktischer Gedanken den Boden finden, das Denken, das denken kann und [193] Denken ist, und das beides zugleich umfängt, sein Denkensein dem Denkenkönnen gebend, so daß es wahrhaft denken kann, sein Denkenkönnen im Denkensein verankernd, so daß es nicht aus seinem Können herauszutreten braucht.

Zwei Fehldeutungen der beschriebenen Denkerfahrung liegen nahe, werden aber durch die Achtsamkeit aufs Erfahrene ausgeschlossen : Die eine Fehldeutung läge darin, auf die Frage, was unser Denken vor dem Etwasdenken sei, nur zu antworten: Selbstverhältnis, Verhältnis von Können und Sein des Denkens. Indem es das Verhältnis von Potenz und Gehalt ist, ist es eben auch die Pole des Verhältnisses. Es ist zunächst Urstand, Spannung auf Denkbares, ist dann und darin Gehalt, Denkensein, wesentlicher (nicht faktischer) Actus seiner selbst, und es ist als ein drittes, von den beiden ersten Bestimmungen gefordert, aber außer sie, über sie hinaus gesetzt, das beide beieinander und so das Denken bei sich haltende Verhältnis. Das Denken schaut sich als ein weiteres und drittes darin an, daß es sich in den beiden ursprünglichen „Einseitigkeiten“ labilen Könnens und stabilen Seins nicht erschöpft, sondern das beide vermittelnde, indifferenzierende ist.

Damit ist aber auch die zweite Fehldeutung bereits überboten: Der Anschein, das „Verhältnis“, welches Verhalt und Gehalt des Denkens in die Balance bringt, sei der das Denken Denkende selbst, sei existentiale und nicht mehr essentielle Bestimmung des Denkens. Nein, das Denken, sein Wesen ist so: sich vergleichendes, sich ausgleichendes, sich gleichendes zu sein, die Gleichung zwischen Denken als Sein und Denken als Können ist gerade Wesen des Denkens, somit freilich auch und erst eigentlich Wesen des Denkenden als eines im Denken von seinem Wesen weder Fixierten noch Verzehrten, sondern eines als denkend gerade Freien.

Schelling legt Wert auf beide Beobachtungen:
1. Die dritte Bestimmung setzt die erste und zweite voraus, aber bewahrt sie als erste und zweite und sich als die dritte1. 2. Auch die dritte Bestimmung ist Was-Bestimmung, ist „Potenz“, sie ist nicht das Prinzip, sondern entbirgt sein Wesen2.

[194] Bewährt sich indessen das an unserem Denken Erfahrene auch an seinem Gedachten? Schließt sich der Hinblick darauf, daß alles sein kann, und das Walten dessen, das ist, was ist, ebenfalls zusammen in ein allem anderen Gedachten Vorgedachtes, welches jenem das Modell der Geistigkeit, des Selbstverhältnisses vorzeichnet? In Schellings Sinn, und sofern wir die Differenz des primum cogitabile zum primum cogitatum im Vollzuge des Mitdenkens unterlassen, auch in dem unseres gegenwärtigen Gedankens: durchaus ja. Es kann alles sein – es ist, was ist: diese Urerfahrungen des Seienden schließen sich zusammen in den gelassenen Hinblick des Geistes, der weiß, daß deshalb, weil ist, was ist, alles sein kann, und wenn auch dies oder jenes sein kann, doch unberührbar ist, was ist, und darum nichts sein muß. Dieser Hinblick erbildet aber, als Figur eines Wesens verstanden, die Linien des Beisichseins, einer in sich geschlossenen, von nichts abhängigen und so doch zu allem offenen Selbstgehörigkeit, des „Gegenstandes“, der es sich selber und so nichts anderem Gegenstand, damit aber gerade die Umkehrung bloßer Gegenständlichkeit, also Wesen der Freiheit ist.

Wir gewinnen hiermit die aufs Seiende wie aufs Denken blickenden Namen der dritten Bestimmung: „Subjekt-Objekt“3, „Beisichseiendes“4, „als solches seiendes Seinkönnendes“5, „um seiner selbst willen Seiendes“6. Schelling spricht vom so in seine Unabhängigkeit gelangten, sich in sich schließenden Wesen, das auf kein weiteres Element mehr verweist, sondern in sich Totalität, Allheit besitzt7, als vom Absoluten8.

b) Der dialektische Zugang aus dem Denken als solchem
Eines hat der erfahrende Zugang aus unserem Denken zur dritten Bestimmung des Seienden im reinen Denken nicht erbracht: die Einsicht in die Denkmöglichkeit des Zugleichseins der Gegensätze Subjekt und Objekt. Dieses Zugleichsein hat sich nur am Phänomen gezeigt und mußte zudem als Gewähr der beiden ersten Bestim- [195] mungen füreinander postuliert werden. Wie aber ist es im Denken zu erklären?

Wenn wir uns nunmehr wiederum ins reine Denken als solches einschließen, um von ihm her seinen Weg zu Ende zu gehen, so ist eben die Richtung der Reflexion auf das in den beiden ersten Bestimmungen Gesetzte, d.h. auf ihre Vorläufigkeit in sich und ihre Vereinbarkeit miteinander einzuschlagen; diese Vorläufigkeit und Vereinbarkeit zugleich führen als das vollendende Ende die dritte Bestimmung herbei.

Zur zweiten Bestimmung gelangten wir im reinen Denken durch ein Experiment mit der ersten. Wir fragten: Kann gesagt werden, das Seinkönnende sei das Seiende? Unsere Antwort lautete: Ja, es muß so gesagt werden; es ist aber zugleich damit gesagt: Das Seiende ist mehr als nur das Seinkönnende, es ist auch das rein Seiende.

Wir führen nun das entsprechende Experiment mit dem Objekt oder rein Seienden durch und achten dabei auf die sich von selbst ergebenden Parallelen und Unterschiede in Ansatz und Vollzug. Die erste Frage heißt: Wie ist die Frage zu stellen? Als Frage, ob das Objekt das Seiende auf erschöpfende Weise sei, läßt sie sich nicht formulieren, da das Objekt nur unter der Voraussetzung des Subjektes Objekt ist. Fragen wir hingegen einfach: Ist das Objekt oder rein Seiende das Seiende?, so ist dies zu bejahen. Das „ist“, welches, vom Subjekt gesagt, von selbst über dieses hinaustrieb, hat in der so gefaßten Befragung des Objekts indessen keine unmittelbar vorwärtsdrängende Kraft, es ist dem rein Seienden wesenhaft angemessen. Mittelbar hingegen bringt das „ist“ die weiterführende Spannung dennoch auch in die Frage ans Objekt, wenn dieses „ganz“, d. h., wenn es mit dem in ihm als vorausgesetzt Mitgesagten in die Frage kommt.

Die Frage hieße dann also: Ist das Objekt mit dem von ihm vorausgesetzten Subjekt zusammen das Seiende? Das Objekt, das rein Seiende war gesetzt worden, weil das Subjekt oder Seinkönnende mit einer Beraubung gesetzt, weil es dem Seienden allein nicht gewachsen war. Die vom „ist“ der Frage und also vom Seienden geforderte Stabilität des Befragten rief das Objekt, das rein Seiende als den Gehalt des Subjektes auf den Plan. Nun aber stehen beide, Subjekt und Objekt, Verhalt und Gehalt, Können und Sein [196] gemeinsam auf dem Plan, um am Maß des Seienden gerichtet zu werden. Beide je allein genügen diesem Maße, wie gesehen, nicht, beide sind aneinander verwiesen. Aber ist dieses Miteinandersein, das die beiden doch fordern und welches das Seiende, um es selbst zu sein, fordert, selbst angesichts des Seienden zu denken, und ist es angesichts der beiden zu denken, die an sich doch das Gegenteil voneinander sagen?

Das Zusammensein von Subjekt und Objekt ist also befragt, das „und“ zwischen beiden. Subjekt und Objekt, sind sie das Seiende? Diese Frage schließt zunächst die anderen mit ein: Subjekt und Objekt, sind sie dasselbe? Da sie aber unmittelbar offensichtlich nicht dasselbe sind, ist darin nach dem weitergefragt, was sie vielleicht ins selbe versammelt, von dem her und mit dem gleich sie doch „dasselbe“ sein könnten. Was gewährt ihnen, sie selbst, also unterschieden und darin doch selbig zu sein?

Kaum eine andere logische (bzw. dialektische) Frage beschäftigte Schelling einläßlicher als diese9. In der Sprache der Methodik reinen Denkens ausgedrückt: Das im Objekt unmittelbar mitgesetzte Mitsein des Objekts mit dem Subjekt ist vom Seienden her aufzuheben, um es vermittelt neu und in dieser Vermittlung als ein Neues, eine neue Bestimmung des Seienden zu setzen.

Das Objekt, das rein Seiende ist, für sich selbst genommen, reine Selbstlosigkeit, in der kein reflexiver Blick statthaben kann, unanfechtbares, nicht mit sich befaßtes Sein. Darin ist es das Gegenteil des Subjekts, des sich selbst an sich haltenden, also mit sich wesenhaft befaßten Könnens. Für die innere Qualität seines Objektseins, für sein reines Sein ist das Können und seine Selbstbezogenheit das schlechthin Andere. Ohne daß aber zuerst Sein im Urstand, also im Können, im Selbstverhalt gedacht würde, wäre das Objekt, wäre das reine Sein nicht zu denken. Ist es dann also als reines Sein nicht zu denken? Das Denken des Subjekts hat noch danach verlangt und es eingeschlossen, daß es als solches gedacht werde. Wie ist diese Aporie zu lösen?

Vielleicht liegt die Lösung in der Aporie. Wird das Subjekt gedacht, so muß das Objekt gedacht werden; denn es ist nur unter [197] der Bedingung des ihm folgenden Objekts. Würde also das Objekt nicht gedacht, so wäre auch das Subjekt nicht zuvorzudenken, würde das Subjekt nicht gedacht, wäre überhaupt kein Denken. Also ist das Subjekt von Anfang an, im Anfang so gedacht, daß es mit seinem Gegenteil vereinbar gedacht ist; es ist gedacht als reiner Urstand, reines Können, das, gemessen am verwirklichten, gekonnten Gegenständlichen, nichts und somit auch für sich selbst ein lauteres Nichts ist. Als dieses Nichts ist das Subjekt aber nur zu halten, in seiner Möglichkeit verhält es sich nur kraft seines Gehaltes, eben des Objektes, das als rein Seiendes in derselben Abgewandtheit von allem verwirklichten Etwas steht, das ein selbes Nichts allen Etwas, das als das per definitionem ganz Selbstlose ebenso auch für sich selbst nicht ist wie das im bloßen Können gehaltene Subjekt.

Von woher ist das reine Denken in Gang gekommen? Das Denken will nicht dies oder jenes denken, sondern seinen Inhalt, ihn aber wesenhaft ganz und so, daß er nicht entgeht und übergeht, daß er stehenbleiben kann. Das Denken will also nicht Seiendes, sondern das Seiende, jenes, das allem, was ist, Wesen sein kann und dem Prinzip selbst Wesen ist, in dem es sich als stehenbleibend, als Prinzip bewährt.

Um dessentwillen setzt das Denken seine Urbestimmung als Verhalt, als bloßes Können, um dessentwillen also als das „Nichts“ des bloßen Etwas. Und um dieses selben willen geht es von dieser ersten Bestimmung fort zur zweiten, die in ihrer Gegensätzlichkeit die erste gewährt und ihr von derselben Hinaussicht auf das Seiende im Nichts-Sein gleicht. Ein Wollen des Denkens, eine Hinsicht gewährt also der ersten und der zweiten Bestimmung reinen Denkens ihren Gegensatz und in ihm ihre Gleichheit.

Beide sind dasselbe, sind es auf entgegengesetzte Weise, sind in dieser entgegengesetzten Weise nicht ein verschiedenes Etwas, sondern ein sich gleichendes Nichts. Beide sagen dasselbe: das Seiende, indem sie sich selbst als reines Nichts sagen. So widersprechen sie sich nicht.

Und doch ist das Subjekt, sofern es Subjekt ist, nicht Objekt, und das Objekt, sofern Objekt, nicht Subjekt. Sie sagen also, dasselbe in derselben Selbstlosigkeit des Nichts sagend, doch je etwas anderes. Ja, aber eben in der Selbstlosigkeit des Nichts: Sie sagen nicht sich, [198] sondern das Seiende, das Seiende aber als je mehr als das bloß und isoliert von ihnen Gesagte. Indem sie aneinander gewiesen sind, weisen sie das Seiende in ihrer dritten Gestalt vor, als das, was beides, was das Zugleich von beiden ist, das im Subjektsein doch Objektive, im Objektsein doch Subjektive, als das im Sein Könnende und im Können Seiende, als das sich Verhaltende, als das die Gegensätze in der Entsprechung Vereinende und von ihrer Gegensätzlichkeit Freie, als das Subjekt-Objekt in dem bereits auf dem ersten Zugangsweg entwickelten Sinne.

Wir wählten zur Entwicklung der dritten Bestimmung aus dem reinen Denken eine am zu denkenden Gehalt orientierte Darstellungsweise, Schelling zieht dem die formale Diskussion des Widerspruchsprinzips vor. Indessen erscheint gerade das Hauptelement seiner Gedankenführung wohl erst in seiner Stringenz, wenn es auf die materiale Basis des Gedankens hin formuliert wird.

Es zeigt seinen Kern in den – bereits im Kontext positiver Philosophie formulierten – Sätzen: „Ich habe schon bemerkt, daß diese Bestimmungen dessen, was sein wird, und das insofern vor und über dem Sein ist, daß diese Bestimmungen sich gleichwohl nur auf das künftige Sein beziehen. Können wir nun zeigen, daß sie sich zu dem künftigen, d. h. zu dem wirklichen Sein, ganz gleich verhalten, so haben wir eben damit gezeigt, daß sie auch einander gleich sind und sich nicht ausschließen. Nun haben wir aber das Erste im Grunde schon gezeigt. Wir haben gezeigt, daß nicht bloß das nur Seinkönnende, sondern ganz ebenso auch das rein Seiende gegen das künftige Seiende sich als nichts verhalten. Nun schließt aber wohl ein Etwas das andere Etwas von sich aus, aber was selbst nichts ist, kann auch von nichts anderem ausgeschlossen werden. Schon hieraus also erhellt die gegenseitige Nichtausschließlichkeit jener beiden Begriffe, und daß das bloß sein Könnende und das rein Seiende nur Bestimmungen Eines und desselben, nicht aber zwei für sich selbst Seiende sind.“10

Es tut indessen noch not, den Blick auf die dritte Bestimmung, auf das „ausgeschlossene Dritte“ in sich zu lenken.

[199] Gerade die Verwiesenheit des Subjektes ans Objekt und des Objektes ans Subjekt, damit jedes der beiden und in beiden das Seiende zu denken sei, zeigt, daß weder in ihrer Isolierung noch in ihrer Summierung das Maß des Seienden eingeholt ist11. Das Seiende wäre darin nicht nach seinem Maße, dem der stehenbleibenden Selbständigkeit, gedacht als das „um seiner selbst willen Seiende“12. Um seiner selbst willen ist es nur, wenn es die Einseitigkeit des bloßen Könnens und des bloßen Seins ebenso als „Mitte“ ausschließt wie doch auch voraussetzt, wenn es beide als in der Mitte vermittelte Elemente behält, nur von Können und Sein her ist es das von beiden zugleich freie13. Indem es beide Elemente in sich vereinigt, ist es gerade nicht aus beiden gemischt, nicht teilweise das eine und teilweise das andere14, sondern ist ganz Können und ganz Sein als die Vereinbarkeit von beidem, als die Uneingeschränktheit des Könnens durch das Sein und des Seins durch das Können, als die Einfachheit, welche Wesen des Geistigen ist, und welche doch nicht selbst einfach ausgesagt werden kann, sondern nur von dem sich in ihr Vermittelnden her.

Die Selbstlosigkeit, in der das Können gehalten werden muß, um Können zu sein, und die Selbstlosigkeit, die dem reinen Sein in seiner Objektivität eignet, vermitteln sich zum Selbstsein, das aber gerade nicht entzündete, sich festhaltende Egoität bedeutet, wie das ins eigene Sein umschlagende, sich an sich nehmende bloße Können sie bedeuten müßte, sondern freien Selbstbesitz, der als solcher, als freier, gerade um sich unbekümmerte Gelassenheit besagt.

„Kurz das Dritte ist nur zu bestimmen, als das zu sein und nichts zu sein erst wirklich Freie, weil es im Wirken oder im Wollen nicht aufhört als Quelle des Wirkens, als Wille zu bestehen, und daher, um Potenz oder um Wille zu sein, nicht nötig hat reines nicht-Wollen zu sein. Oder ... das unzertrennliche Subjekt-Objekt ist ... das sich selbst nicht verlieren Könnende, das bei sich Bleibende, kurz das als solches seiende Seinkönnende. Und dies erst ist das, was wir eigentlich wollen können, und daher auch schon ursprünglich wollen.“15

In der dritten, die erste und zweite voraussetzenden Bestimmung [200] des reinen Denkens erreicht dieses sein anfängliches Maß, das stehenbleibende, sich genügende Seiende, das Was des Prinzips. Das reine Denken weiß, daß es nichts weiter mehr zu denken, daß es hiermit die Figur des Seienden vollendet, daß es seinen Inhalt sich vollständig entborgen und zustande gebracht hat. Es hat in der Figur der Geistigkeit jenes gedacht, als was das Denken, die denkende Vernunft sich erfährt und damit jenes zugleich, was wahrhaft sein kann, was, wenn es ist, verdient, „seiend“ zu heißen, weil es sich genügt und nicht mehr über sich hinaustreibt.

Um auf den Zugang zum reinen Denken aus unserem Denken her zurückzublicken: Wir gewahren in der Bestimmung, in welcher das reine Denken seinen dialektischen Gang und somit das Seiende beschließt, genau jenen Befund, auf den das gesamte Experiment der Reduktion des gedachten Gedankens von Anfang an hinblickte. Warum konnten wir den Gedanken in seiner Wurzel, in seinem Urstand anschauen wollen, in denen er nicht dieser Gedanke, sondern Aufbruch des Denkens selbst ist? Weil unser Denken um sich selbst als Ursprung vor und über allem Gedachten, weil es um die Reinheit seines zu allem offenen und alles in sich bergenden, seines also freien Wesens wußte und weil es solches denkend erst sich in seinem Wesen weiß.

c) Bedeutung der abschließenden Bestimmung reinen Denkens
Ansatz und Tragweite der „Potenzenlehre“ und die in ihr vollzogene Grundentscheidung des Denkens traten an ihrem Angelpunkt, an der ersten Potenz bereits in unseren Blick. Das seither Ermittelte ist nur die Erfüllung und Bestätigung des in jenem Anfang Angelegten.

Vom Ende des konstitutiven Ganges reinen Denkens her fallen uns zwei Züge bestätigend und erläuternd auf:

  1. Es gelingt Schelling, die aufs „ist“, aufs Sein hinblickenden Strukturen reinen Denkens, in denen sich all sein Gedachtes faßt, derart zu entwickeln, daß in ihnen das Modell der Gegenständlichkeit sich öffnet und überbietet zur Freiheit als Öffnung über sich hinaus. Schelling setzt, wie ausgeführt, beim primum cogitabile an, bei der Struktur, die das Denken seinem Gedachten aufprägt, es [201] versteht Denken so als Erdenken seines Gegenstandes bzw. seines Gedachten in die Gegenständlichkeit. Diese selbst aber ist in der Weise, wie sie hier gedacht ist, aufgesprengt und wird zuhöchst die Umkehrung ihrer selbst, eben die Offenheit über sich hinaus. Das Denken kommt so dazu, gerade das Andere des Faßbaren, Gegenständlichen zu denken, es bringt am Ende seiner Immanenz, seines inneren Sich-Vollbringens, sich über sich hinaus.

    Dies muß festgehalten werden, auch wenn nicht zu übersehen ist, daß die Umkehrung, der Gedanke der Freiheit selbst, dem in ihr umgekehrten Gegenstandsmodell verhaftet bleibt und das Denken so in seinem Vollzuge nicht davon loskommt, vor-, her- und sicherstellendes Denken zu sein.

  2. Im ersten ist ein weiteres mitgesagt: Nicht nur die Gegenstandsstrukturen des Denkens kehren sich um in die Öffnung für ihr Anderes, Geistigkeit selbst und der Selbstbesitz der Geistigkeit selbst werden anfänglich als Offenheit über sich hinaus angesetzt und in der Selbstbeschlossenheit und Selbstgenügsamkeit des Geistes gerade gewährt und gewahrt. Es wird nicht ein Schema entwickelt, in welchem Geistigkeit als Sich-Denken im vorhinein bereits nur sich selber zugekehrt erscheint und in welches erst nachträglich die Offenheit des Geistes über sich hinaus einzuzeichnen wäre.

Gewiß ist die Möglichkeit als Möglichkeit des „Anderen“, die „Äußerung“ im Wesen des Geistes zunächst verborgen, aber als verborgen sowohl konstitutiv für den Ansatz, der gerade auf der Ambivalenz der Möglichkeit aufruht, als auch eingebracht ins Ende, das als Freiheit des Geistes von sich selbst ein wesenhaft geöffnetes Insichsein bezeichnet.

Auch hier ist der Rang des Gedankens zugleich seine Begrenzung: das Andere wird das als möglich aus dem Inhalt der Geistigkeit „Ableitbare“, deren Freiheit nach außen so, wie gesehen, sich beschränkt auf das Ergreifen oder Nichtergreifen wesentlich vorgeprägter Möglichkeiten. Äußerung als Beziehung, das partnerisch Andere der Anrede bleiben so notwendig ungedacht.


  1. Vgl. XI 311, XIII 234. ↩︎

  2. Vgl. XI 313, 290, X 305. ↩︎

  3. XIII 77, 235–37, X 304/5 u. passim. ↩︎

  4. XI 290, 303. ↩︎

  5. XIII 235. ↩︎

  6. XIII 234. ↩︎

  7. XIII 239. ↩︎

  8. XI 291, XIII 238. ↩︎

  9. Vgl. bes. XI 304–312, XIII 217–222. ↩︎

  10. XIII 218/19; vgl. die gesamten Ausführungen 217–222 u. 232; zum Kontradiktionsprinzip bes. XI 304–312, 290. ↩︎

  11. S. XIII 233. ↩︎

  12. XIII 234. ↩︎

  13. Ebd. ↩︎

  14. Vgl. XI 289/90. ↩︎

  15. XIII 235. ↩︎