Einheit als Leitmotiv in „Lumen Gentium“ und im Gesamt des II. Vatikanums

Das Thema und sein Bezug zu Karl Rahner

Die Theologie des II. Vatikanischen Konzils ist „die Theologie eines Übergangs“1. Das Neue, dem dieser Übergang zusteuert, darf nicht allein in den Details gesucht werden, sondern auch und gerade im Ganzen selbst. Was aber ist das Neue im Ganzen des Konzils? Eine etwas zugespitzte Antwort könnte lauten: das Ganze. Und was heißt das? Es geht beim II. Vatikanum nicht mehr mit Vorrang darum, Klärungen dieser oder jener Einzelfrage herbeizuführen, falsche Positionen zu verurteilen und rechte Regelungen zu treffen. Solches muß gewiß immer wieder auch der Fall sein. Doch beim letzten Konzil kommt in einer in früheren Konzilien so nicht gewohnten Weise das Ganze selbst in den Blick und in Bewegung. Man kann zwar nicht behaupten wollen, das II. Vatikanische Konzil hätte ein Kompendium, eine Zusammenfassung der gesamten Theologie und Glaubenslehre angezielt oder gar geleistet. Es geht nicht um ein System. Wohl aber geht es darum, sich des Ganzen innezuwerden, was das heute heißt: Christsein und Kirche. Und ebenso geht es darum, sich dessen innezuwerden, wo auf ihrem Weg sich Menschheit und Welt befinden, wie sie im Ganzen geworden sind: Welche Fragen stellen sie an Christentum und Kirche? Wie können Christentum und Kirche sich selbst, ihr Ganzes einbringen in das offenkundig ihr fremd gewordene Ganze von Menschheit und Welt heute? Das Ganze drängt zum Ganzen, das Ganze fordert das Ganze heraus – Kirche und Christentum insgesamt müssen neu adoptiert, neu gesehen werden von denen, die glauben, damit der Auftrag für Menschheit und Welt wahrgenommen werden kann. Welt und Menschheit müssen neu anvisiert werden aus dem Glauben, damit die Glaubenden betroffen seien von der Welt, in die sie gesandt sind, betroffen wie jener, der sich in diese Welt hineingewagt und sich für sie [208] hingegeben hat. Kirche im Ganzen und als Ganzes – Menschheit und Welt im Ganzen und als Ganzes: zwei Pole konziliaren Denkens und Sprechens. Aber diese beiden Pole liegen nicht auseinander, sondern ineinander, sie gehören zusammen, und zwar nicht nur in einer funktionalen Betrachtung des Auftrags und der Sendung der Kirche, sondern vom innersten Grund des Glaubens her. Denn Gottes Leidenschaft für die Welt ist Sinn und Grund der Existenz der Kirche, und Gottes Präsenz und Wirksamkeit, die sich in der Kirche ereignen und vermitteln, sind die Mitte und der Zusammenhalt der Welt.

Wenn auch erst im Ansatz und in Expositionen, zu denen die Durchführung noch aussteht, liefern die großen Konzilstexte doch immer wieder Durchblicke durch die Heilsgeschichte als Geschichte Gottes mit der Menschheit. Es sei erinnert an das 1. Kapitel der Dogmatischen Konstitution über die Kirche und an die Komposition dieses zentralen Konzilsdokumentes überhaupt, an die Nummer 2 des Ökumenismusdekrets, an das 1. Kapitel des Dekretes über die Missionstätigkeit der Kirche, an die Gesamtanlage der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung. Als das Negativ solcher Universalsicht, die von der Mitte des Glaubens her ansetzt, als die Entsprechung von der Gegenseite her darf gewiß auch die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute hier herangezogen werden.

Wo es um das Ganze geht, da geht es naturgemäß um die Einheit. Unter den Allgemeinbegritfen, welche die Sprache des Konzils prägen, nimmt schon quantitativ das Wort „Einheit“, zusammen mit den unmittelbar zugehörigen Wortbildungen, einen auffallend breiten Raum ein. Dies gilt nicht nur für die bereits erwähnten Konzilsdokumente. Die beiden Grundinteressen des konziliaren Sprechens über die Einheit richten sich, dem gezeichneten Ansatz gemäß, auf die Einheit der Kirche und die Einheit der Menschheit.

Karl Rahner hat einen interessanten Artikel mit genau diesem Titel verfaßt: „Einheit der Kirche – Einheit der Menschheit“2. Ohne daß er hierbei auf Einzelaussagen des II. Vatikanums breit eingeht, liefert er im grundlegenden ersten Teil ein wichtiges Instrumentarium und mehr als nur ein Instrumentarium, um die Rede des Konzils von der Einheit aufzuschlüsseln, sie in ihren theologischen und philosophischen Kontext einzufügen und für den Vollzug theologischen Denkens und kirchlichen Lebens fruchtbar zu machen3. Wie er hier Einheit als Voraussetzung und Ziel alles Seienden und Geschehenden erhellt, es auf eine absolute, einende Einheit als Bedingung [209] der Möglichkeit hinbezieht, den Zusammenhang und die Differenz zwischen dieser und dem Sprechen der Offenbarung vom lebendigen Gott darstellt, den Weg der Geschichte überhaupt und der Kirche im besonderen als Weg zwischen gegebener und aufgegebener Einheit interpretiert, Liebe als den Weg zur Einheit plausibel macht und in den folgenden Teilen die Konsequenzen für die Problematik der Einheit der Menschheit und der Einheit der Kirche zieht: dies ist vom Ansatz her ein kleines Kompendium seines Denkens und zugleich ein denkerischer Rahmen, der nicht äußerlich als Systematisierungsversuch zu den Konzilsaussagen über die Einheit hinzugefügt wäre, sondern ihrer immanenten Dynamik entspricht, sie ans Licht hebt. Es ist wohl berechtigt, an diesem Exempel in Anschauung zu bringen, wie fundamental Karl Rahner einer der „auctores“ des II. Vatikanums ist.

Die nachfolgenden Seiten möchten indessen nicht die lohnende und wichtige Arbeit vollbringen, die Konzilsaussagen über Einheit im einzelnen zu sammeln, zu orten und in die von Karl Rahner bereitgestellten Denkkategorien einzufügen. Dies wäre keineswegs nur eine historische Fleißarbeit, es könnte eine Fülle von Ansatzpunkten zum Weitergang aus dem „Übergang“ erbringen. Gleichwohl schlägt unsere knappe Skizze einen anderen Weg ein: Nach einer kurzen Übersicht über Einheit in „Lumen gentium“ und einem Seitenblick auf wenige andere Kontexte innerhalb der Konzilsaussagen soll, freilich wiederum nur in Stichworten, die einläßlicher weiterer Diskussion und Ausarbeitung bedürften, eine Struktur von Einheit gemäß dem Denken des II. Vatikanischen Konzils entworfen werden.


  1. K. Rahner, Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils, in: Schriften XIV 309. ↩︎

  2. Schriften XIV 382-404. ↩︎

  3. Ebd. 382-386. ↩︎