Aachen 1986 – eine Botschaft?

Das Unterscheidende

Das ist heute von Belang, da wir eine neue und gefährliche Welle der Zudringlichkeit zum Verborgenen und Entzogenen zu bestehen haben. Es ist hier nicht der Ort, um über die Erscheinungsformen und die Hintergründe von Spiritismus, Okkultismus und Satanismus zu sprechen, die, oft mit scheinbar harmlosen Spielereien anhebend, doch tiefe und schwere Einbrüche in unsere junge Generation hinein erzielen. Soviel steht freilich fest: Tod und Schuld, Größe und Abgründigkeit des menschlichen Herzens bedrängen den Menschen auch und sogar besonders in einer aufge-[44]klärten und fortschrittlichen Gesellschaft. Diese kann die Frage nach dem Geheimnis nicht ausmerzen, aber aus Eigenem auch nicht beantworten. Und nun tut sich die Gefahr auf, daß der Mensch, der Grenzen seiner Rationalität überdrüssig, mit einem magischen, im Grunde also doch „technischen“ Zugriff sich des Geheimnisses bemächtigen, es verfügbar und nutzbar machen will.

Verantworteter Zugang zum Geheimnis und Umgang mit dem Geheimnis des Lebens und Sterbens, der Welt und der Geschichte und letztlich Gottes selbst sind Lebens- und Zukunftsfragen schlechthin. Nach Jahrzehnten einer wenigstens scheinbaren Abwesenheit des Sinnes für das Geheimnis bricht dieser gewaltig wieder auf. Die bloß wissenschaftlich aufbereitete oder moralisch aufgerüstete Lehre genügt nicht, um den Glauben an Jesus Christus einer kommenden Generation zu vermitteln. Wir brauchen Zugänge, in denen der Mensch als ganzer angegangen und berührt wird und als ganzer hingenommen wird in die Berührung und Begegnung mit dem Geheimnis, das für uns einen Namen und ein Antlitz trägt: Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes.

Dieser Hinweis bedeutet natürlich nicht: Veranstaltet Heiligtumsfahrten, führt junge Menschen hin zu Reliquien! Münzten wir das, was sich in Aachen geschenkt hat, um in einen reproduzierbaren Zugriff, zimmerten wir aus der anrührenden Erfahrung eine handhabbare Methode, dann wäre es gerade um das geschehen, worum es geht: um eine lebendige Beziehung zum Geheimnis, die inspirierend überging in eine Beziehung zueinander, um das Licht jener neuen Stadt, das, in den Kirchen entzündet, sich ausbreitete auf die Straßen und Häuser.

[45] Versuchen wir einmal, das Unterscheidende jener Erfahrung ins Wort zu heben, die sich uns in den Aachener Tagen erschlossen hat.

Zunächst scheint mir wichtig, daß wohl bei den meisten und zumal bei den meisten jungen Menschen, die in die Kirchen und zu den Heiligtümern kamen, nicht ein ganz bestimmtes privates Anliegen im Vordergrund stand. Diese Anliegen wurden von einzelnen gewiß mitgebracht, aber das Erwartete war weniger eine unmittelbare „Erhörung“ als eine Berührung der Person mit dem Geheimnis des Glaubens. Wenn ich ein Schriftwort zur Deutung heranziehen soll, dann denke ich an die Frage der Johannesjünger, die zu Jesus kamen: „Meister, wo wohnst du?“ (Joh 1,38). Es ging ihnen um das Kennenlernen, um den Eintritt in die Atmosphäre, in den Umkreis dieses Menschen.

Ein zweites: Wer sich einließ auf die Heiligtümer, der ließ sich ein auf Erinnerung, auf Gedenken. Es ging nicht um einen gegenwärtigen Zugriff, um ein spektakuläres Erlebnis im Jetzt, sondern um den Kontakt mit einem geschichtlich entzogenen und doch weiterwirkenden, zu uns herreichenden Ursprung. Vergangenheit ging auf als Lebensquell für Gegenwart; die christlich so wichtige Größe der Memoria, des Gedächtnisses, und die menschliche Grunderfahrung von Geschichte traten in den Blick.

Zum dritten: Mehr als eine erlebnisstarke Feier waren das stille, schlichte Warten, Verweilen, Aushalten prägende Grundvollzüge. In ihnen kommt mehr von mir ins Spiel als dort, wo nur ein oft ungehobener Bodensatz von Emotionen momentan aufgewirbelt [46] wird. Wo nicht die Zeit und das Dasein selbst die Organe meines Erkennens werden, bleibt Erkenntnis oberflächlich und punktuell.

Als viertes möchte ich nochmals ausdrücklich machen: Die Heilsgeheimnisse bleiben in jener Distanz, die sie davor schützt, profaniert und in die Schau gezogen zu werden. Die Geburt und der Tod des Herrn, das Zeugnis der Mutter und des Täufers betrafen, rührten an, aber sie bewahrten ihren verborgenen Überschuß über das, was von ihnen ins Zeichen und somit in die Gegenwart trat. Die Diskretion blieb gewahrt. Aber das ist nur die eine Seite: Die Handgreiflichkeit des Zeichens, die elementare Einfachheit, die alltägliche und banale „Vorderseite“, das war aussagekräftig: So, auf solche Weise ist Gott mir nahegekommen, hat er sich in meine, in unsere Welt eingelassen. Die Grundspannung von Entzug und Nähe, von Unberührbarem, das sich berühren läßt und berührt, kam ins Spiel.

Damit ist unmittelbar ein fünftes verbunden: Tuchfühlung, die hier geschah, war nicht nur je meine Tuchfühlung mit dem Geheimnis, sondern auch seine mit mir. Das Geheimnis ragt in die Welt meines Alltags, meines Umgehens mit den Dingen, meines Verhaltens zur Welt und zu den anderen hinein. Darin aber geschehen Verwandlung und Sendung. Meine eigene Welt erhält einen „sakramentalen“ Charakter, sie ist nicht nur die geschlossene Welt gebrauchter und verbrauchbarer Objekte, sondern Welt der Begegnung mit dem Heiligen, aber auch der Verantwortung, die es mir auferlegt.

[47] Natürlich sind nicht allen, die in Aachen dabei waren, diese fünf Erfahrungen ausdrücklich geworden, und sie haben keineswegs bei jedem, der sie machte, dieselbe Dichte und Vollständigkeit erreicht. Dennoch scheint es nützlich, einmal jenen Typus von Zugang ans Licht zu heben, der sich in Aachen auftat und der sich abhebt von den Zugängen über die Wissensvermittlung, die organisierte Feier, den moralischen Appell oder gar über den Versuch einer magischen Bemächtigung.