Unterscheidungen

Das Verständnis des Unbedingten als Gott*

Und doch bleibt die Anfrage der anderen Grundweisen menschlichen Verhältnisses zum Unbedingten an den Anspruch der Religion. Sie wird gerade zur Anfrage an die „Identifikation“ des Unbedingten als Gott. Vermittelndem Denken entzieht sich das Unbedingte in jeder seiner Gestalten. Gestaltendes Denken hat die Unbedingtheit des Unbedingten „im Rücken“, indem es sich der Gestaltung der Idee in der Wirklichkeit zuwendet. Das Unbedingte ist in seiner Reinheit und Unfaßbarkeit gewahrt. Gerade dann, wenn die Personalität Gottes als die Unverfügbarkeit seines je neuen Aufgangs aus sich selbst im religiösen Vollzug anwesend ist, gehen diese Erfahrungen des Unbedingten, die in der Philosophie und in der Gestaltung sich verdichten, nicht verloren; dennoch bleibt das „Antlitz“ Gottes, das „Wort“ Gottes, der „Wille“ Gottes und somit Gott selbst in der eigentümlichen Spannung, gestalthafter Aufgang des Übergestaltigen in eine Gestalt zu sein, die sich [44] nicht nur als Konsequenz der Endlichkeit dessen versteht, der sich zu Gott verhält, sondern als die Äußerung, die Offenbarung, die Epiphanie, das Sich-Zeigen Gottes von sich her. Die Frage heißt also: Kann das Unbedingte als solches „unmittelbar“ werden, unmittelbar in einer Gestalt, ja ist das nicht ein Widerspruch in sich: Gestalt des Unbedingten?

Was immer aufgeht, was immer sich zeigt, erbildet seine Gestalt. Ohne jede Gestalt wäre es nicht unterscheidbar; und wäre es nicht unterscheidbar, so zeigt es sich weder für sich noch für andere als sich selbst. Das Verhältnis des sich Zeigenden zu seiner Gestalt, die es zeigt, ist konstitutiv, ist durchgängig. In diesem Verhältnis aber ist eine Differenz eingeschlossen: Die Gestalt ist Gestalt dessen, Gestalt von dem, was in ihr aufgeht. Sie ist an sich selbst „nicht“ das in der Gestalt sich Zeigende, sie ist abkünftig von ihm. Sie ist „kleiner“ als der Ursprung, der sich in ihr manifestiert, wenn dieser sich auch erst darin als Ursprung erweist, daß ihm seine Gestalt entspringt.1 So ist der Ursprung in seiner Gestalt und durch seine Gestalt „mehr“ als ohne sie; denn erst in ihr und durch sie ist er selbst. Die Gestalt aber erschöpft nicht den Ursprung; denn ein in seiner Gestalt erschöpfter Ursprung löste sich in seine Gestalt hinein auf, die Gestalt substituierte sich als neuer Ursprung des Sich-Zeigens.

Dies heißt freilich: Gestalt „in sich“ gibt es gar nicht, Gestalt hat immer zwei Dimensionen. Sie ist einerseits, in ihrer Vielfältigkeit betrachtet, die „horizontale“ Konstitution des Erscheinens, die dieses als ein Erscheinen zusammenbindet. Darin aber erscheint eines. Dieses eine unterscheidet sich als eines nun „vertikal“ von der Gestalt, denn es wird in ihr ersehen, es ist das in der Gestalthaftigkeit der Gestalt ebenso Gewährte wie Entzogene. Damit aber hätte auch „bloße“ Gestalt – etwa ein Kunstwerk, das nichts darstellen, nichts ausdrücken, sondern nur Gestalt sein will –, die zweite Dimension, die der Tiefe, in sich: Gestalt ist je Gestalt von …, zumindest Gestalt von „Gestalt“.

Dieses allgemein von Gestalt Gesagte führt angesichts des Begriffes des Unbedingten in eine eigentümliche Aporie. Gestalt des [45] Unbedingten, in welcher es selbst unmittelbar wird, das heißt doch: vom Unbedingten Abkünftiges, Bedingtes, in dem es selbst als unbedingt sich gibt, in seiner Unbedingtheit aufscheint, Gestalt, die vom Unbedingten imprägniert, stigmatisiert, in den Rang unbedingter Geltung gehoben ist. Solches aber scheint der Unbedingtheit des Unbedingten zu widersprechen. Andererseits: Wie soll Unbedingtes überhaupt sich mitteilen, ohne – wie auch immer – Gestalt zu werden? Liegt vielleicht gerade hier, wenigstens teilweise, auch die Not neuzeitlichen Denkens mit der „Erkennbarkeit Gottes“ überhaupt begründet?

Es bleibt indessen zu fragen, ob unser Ansatz zum Verständnis von Gestalt und Ursprung der einzig mögliche und einzig gemäße sei. Gibt es nicht einen fundamentalen „Fall“ von Gestalt, der die hier angedeuteten Verhältnisse zwar keineswegs falsifiziert, aber derart überholt in eine größere Ursprünglichkeit, daß von dorther die Frage nach dem Unbedingten und seiner „unbedingten Gestalt“ sich neu stellt? Dieser Fall ist der Fall der Freiheit, die sich erschließt, die sich mitteilt. Schauen wir ihn dort, wo dies zunächst und „unmittelbar“ möglich ist, schauen wir ihn am Menschen an. Wenn ich mich einem anderen anvertraue, ja mich ihm schenken will, wenn ich nichts von mir draußen lassen will aus meiner Gabe an ihn, so bleibt mir zwar nichts anderes übrig, als auch ihm nur „etwas“ zu geben, „etwas“ zu sagen, ein einzelnes Wort, eine einzelne Geste. Diese Worte oder diese Gesten sind natürlich nicht die einzigen Worte oder Gesten innerhalb des Reservoirs meiner Möglichkeiten. Und doch konnte in dieser Situation und Intention ich dir „nur dies“ und „nur so“ mich geben. Hat nun mein Wort den Sinn, mich selbst dir zu geben, so geschieht etwas Doppeltes: Ich verendliche mich, mache mich selbst, meine in keiner endlichen Äußerung sich erschöpfende Ursprünglichkeit zum Gegebenen, Ausgelieferten. Ich selbst gebe mich weg von mir. Damit aber erhält andererseits der Ausdruck meines Mich-Gebens, die Gestalt, die das „Sakrament“ meines Mich-Verschenkens ist, Anteil an meiner Ursprünglichkeit selbst. Sie ist nicht mehr nur etwas von mir, sie enthält mich, meine Ursprünglichkeit. Ich überhole mich zu dir hin [46] und überhole so gerade meine eigene Endlichkeit, an sich, d. h. an die Entzogenheit meines Ursprungs in meiner Gestalt, gebunden zu sein. Gerade die Verendlichung meiner selbst in meiner Weggabe von mir ist Vollzug, ja Steigerung meiner Ursprünglichkeit, die so nicht mehr nur etwas von sich geben, sondern sich selber ent-springen kann, mag im menschlichen Vollzug dieses Sich-Geben auch der je neuen Bewährung, des je neuen Ereignisses bedürfen; doch gerade dies ist Signum dafür, daß die Selbstgabe von ihrem Wesen her nicht Selbstverlust, nicht Ende meiner Freiheit, sondern ihre unverbrauchte und unverbrauchbare Ursprünglichkeit selber besagt.

Dieses Modell ist für das Verständnis des Unbedingten als Gott, will sagen für die Möglichkeit von Religion als Unmittelbarkeit des Unbedingten in seiner Gestalt entscheidend. Unmittelbare Gestalt des Unbedingten, in welcher somit Gott als Gott aufgeht, kann nur als „Offenbarung“ verstanden werden, als Sich-Geben Gottes. Die Selbstgabe vermag allein jene Gestalt zu sein, in welcher das Unbedingte ebensowohl sich von sich weg gibt wie als Unbedingtes anwesend ist. Gerade die „Verendlichung“ des Unbedingten, über sich hinaus zu dem hin zu sein, was nicht unbedingt ist, ist nicht Minderung seiner Unbedingtheit, sondern ihr Vollzug, Vollzug der absoluten, sich selbst nicht verlieren könnenden Freiheit. Daß diese unbedingte Selbstgabe, in der Dimension ihrer Vermittlung betrachtet, sich je in endlichen Worten und Gestalten begibt, die in ihrer Gestalthaftigkeit nicht unbedingt sind, entspricht gerade dem bezeichneten Modell: in einem einzelnen Wort, in einer einzelnen Aussage, die vom Repertoir möglicher Aussagen auch anders ausfallen könnte, sage ich mich selbst dem anderen zu. Von hier aus klärt sich auch die Dialektik zwischen der immanenten Endlichkeit und Relativität der Aussagen, die den Anspruch erheben, göttliche Offenbarung zu sein, und der Unbedingtheit dieses Anspruchs. Die Aussagen der Offenbarung sind notwendig endlich, die Zusage, deren Sakrament sie sind, ist unbedingt, und von der Logik der gerade so und nicht anders sich gebenden Unbedingtheit Gottes sind auch diese endlichen Aussagen beliebiger Verfügung und Deutung ent- [47] zogen. Diese Aussagen haben ihre Geschichte, sie haben sie aber im Gespräch des Glaubens, in der Gemeinschaft des Bundes, in welchem der Mensch auf das Sich-Geben Gottes, auf seine sich verschenkende Freiheit mit der eigenen Freiheit eingeht.

Das Ausgeführte hat nicht bloß allgemeine Bewandtnis. Es ist wichtig auch für das Verständnis der christlichen Aussagen über Trinität und Inkarnation. Gott selbst geht, an sich selbst, auf als sich verschenkende und gerade darin unbedingt in sich bleibende, mit sich selbst identische Freiheit. Sein Sich-Geben, seinen Aufbruch in seine Gestalt, weiß christlicher Glaube als Aufbruch in Gleichursprünglichkeit und Mitursprünglichkeit, er bekennt unbedingten Ursprung als Gemeinschaft der Ursprünge. Und gerade von daher ist auch jene Gabe, in der Gott zuhöchst sich selber verschenkt, er selbst, er selbst in der Wirklichkeit dessen, an den er sich verschenkt, in der Wirklichkeit des Menschen. Das Sich-Geben eines Menschen ist der Ort, an dem Gott selbst sich gibt, und beides ist, ungetrennt und unvermischt, dasselbe, derselbe. Das Verständnis Gottes als des Dreifaltigen und als des in Jesus Christus sich Inkarnierenden und so gerade sich endgültig Offenbarenden liegt in der Konsequenz dessen, wie Gott überhaupt als Gott zu verstehen ist, wenn es auch konsequent ist, daß solche Konsequenz alles eher als das aus Prämissen Herauszurechnende, als das logisch aus dem Begriff Gottes Abzuleitende ist.


  1. Vgl. Bonaventura, De reductione artium in theologiam, 8. ↩︎