Denken der Grenze – Grenze des Denkens

Das Was des Gedankens und das Wie des Denkens

Wie kommt es zu einem solchen Gedanken? Wie geht das, Grenze so zu sehen, genauer gesagt: in den Wissenschaften zunächst jenes Gelände des Seienden zu entdecken, in welchem Grenzen, für diese Wissenschaft konstitutiv, verlaufen, in diesen Grenzen dann das vorab Ungesehene, das Wesen von Grenze selbst, zu gewahren und in diesem Wesen von Grenze alles Begrenzte und das anfänglich Begrenzende, den begrenzenden Anfang selbst, und zwar dergestalt, daß er im Feld des Begrenzten seine begrenzende Anfänglichkeit spiegelt und mitteilt?

Man kann für solche Frage nach dem Wie des Gedankens in seinem Was eine doppelte Spur entdecken. Die eine: Man kann von dem her, was am Ende, auf der dritten Stufe, Bernhard Welte über die Phänomenalität künstlerischen Anfangens sagt, ausgehen und in diesem Wahrgenommenen die Gangart des Gedankens selbst erheben, der sich in unprätentiösem, unmittelbarem Angang dem Phänomen nähert, indem er es einfach entwirft, aus sich wirft und in seine gefügte Ordnung auseinanderwirft, so daß darin das zu Denkende sich wiederfindet und spiegelt und wir sagen: Ja, so ist es! Man könnte alsdann sozusagen den Weg dieser drei Stufen nach rückwärts weitergehen, im leichten, intuitiven Spiel des Gedankens die Momente des [17] Anfangens entdeckend, die von sich her das Walten von Grenze aufschließen; und weil dieses Walten von Grenze schon in Gedanken anwesend ist, versteht sich, wieso sich ihm die Wissenschaften in jenes Bild geben, in welchem die mannigfachen Grenzen zwischen den Wissenschaften und der Wissenschaften zu orten und zu deuten sind. Man könnte also sagen: In der einenden und unterscheidenden Dynamik künstlerischen Anfangens hat Bernhard Welte nicht nur das Feld eröffnet, in welchem sich in letzter Konsequenz das Geschehen und Wesen von Grenze erhellt, er hat hier seine eigene Art zu denken vor sich gebracht. Sie trifft auf dem Weg des Denkens an dieser letztlich entscheidenden Stelle seines Gedankenganges bei sich selber ein und erreicht hier die Herkunft dieses Gedankenganges. Ein solches Denken dächte dann einerseits also gerade sich selbst – aber wenn es an sich selber jener künstlerische Überschritt über die Grenze ist, in welcher Grenze sich allererst konstituiert, dann befähigt gerade dieses Bleiben des Gedankens in sich, im Eigenen, seine Fähigkeit, das andere an ihm selbst zu erhellen. Die Phänomenologie Bernhard Weltes wäre dann die Phänomenologie des eigenen Denkens, das aber als „grenzendes“ Denken in seiner Aktivität zugleich die Rezeptivität für den Aufgang seines anderen ist.

Verweilen wir jedoch mit noch mehr Bedacht bei der zweiten Spur, die sich im selben Gedankengang eröffnet. Sie mutet vielleicht naiver und vordergründiger an, hebt aber noch mehr von der Textur des Gedankens ans Licht und bestätigt von der anderen Seite her doch auch die zuerst begangene.

Bernhard Welte schaut einfach hin. Damit hebt es an, damit hebt ausdrücklich und immer wieder er an. Fangt doch nicht gleich an mit Einordnungen, macht nicht gleich Konstruktionen, reflektiert nicht sofort auf Koordinatensysteme, die nur mit Material aufgefüllt und mit Einzelergebnissen bestätigt werden sollen! Habt den Mut, einfach einmal behutsam hinzuschauen und dann aus diesem Hinschauen den Gedanken sich gebären zu lassen! So hat er es Ungezählten immer wieder gesagt, die sich mit ihm auf den Weg des Denkens und Verstehens angesichts der großen Gedanken der Geschichte, der Zeugnisse von Kultur und Natur, der Gegebenheiten und Gaben der sich uns zutragenden Alltäglichkeit eingelassen haben. So hat er es auch hier, bei diesem Phänomen von Grenze, selber [18] gemacht. Er hatte die zwei Vorgaben: Wissenschaft – Grenze. Und er hat sie nicht in irgendeiner Konstruktion miteinander gekoppelt, sondern hat so lange auf das Geschehen und Leben von Wissenschaften hingeschaut, möglichst elementar, möglichst nicht in fachmännischer Spezifizierung auf besondere Probleme, bis sich in diesem Feld Grenzen zeigten und in ein Gefüge gaben, das sich dann mehr und mehr als das Gefüge von Wissenschaft selber enthüllte.

Einerseits ist solches Hinschauen naiv, es hat sein Recht und zugleich seine Besonderheit, wie es scheint, allein in den drei Tugenden der Geduld, die nicht schnell Ergebnisse vorwegnimmt, der Behutsamkeit, die zwar nicht nervös auf Kleinigkeiten, aber zart auf Unscheinbares achtet, des Mutes, der gegen den Strom andrängender Interpretationen und Begriffe den Blick auf die Sache selber durchhält.

Aber diese drei Tugenden der Geduld, der Behutsamkeit und des Mutes sagen doch mehr über solches Hinsehen als nur eine Askese, eine Übung, welche die inneren Sinne verfeinert. Solches Zusehen hält sich selber in der Geduld aus, es geht in der Behutsamkeit mit sich selber mit und vollzieht den Gang des Sehens im Mut über sich selber hinaus in sein anderes. Diese Tugenden des Zusehens sagen: Das Sehen sieht sich selber zu, indem es gerade von sich absieht, indem es gerade „einfältig“ nur auf die Sache selber achtet.

Hier haben wir den Nerv erreicht. Das ist Bernhard Weltes Phänomenologie: Hinsehen, das, gerade indem es sich auf seine Sache zusammelt, in sich selber sammelt, indem es von sich selber absieht, seiner selbst gewahr wird, indem es vom anderen seiner bestimmt wird, dieses und sich selber mit Genauigkeit bestimmt. Das von Welte zitierte Hegel-Wort aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes sagt die gewiß andere und eigene Art Welteschen Denkens aus: „Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und ... ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe ...“.1 Auf Weltes Gedanken gewendet: Er ist gelassenes und zugleich gespanntes Hinsehen auf seine Sache, das von sich selber absieht, aber gerade so in die jeder Sache angemessene, von ihr ausgehende Schwingung und Gangart hineingebracht wird, so daß dieses Denken seine Identität wahrt, indem es sich je dem anverwandelt, was in es hinein aufgeht.

[19] Wie aber geschieht solches Aufgehen, wie der Einklang von Ausgang und Eingang, Ruhe und Schwingung? Solches Denken ist Vollzug von Grenze. Das „Nicht“, das Ausschließen von allem, was nur Zusatz, Überbau, kluger Kontext, aber nicht die Sache von ihr selber her wäre, diese mutige, enthaltsame Strenge, diese sich selbst zum reinen Medium des Aufgangs des anderen depotenzierende Demut, steht am Anfang. Darin aber geschieht gerade der Aufgang des „Dieses“, die Konzentration auf das, was sich von sich her zeigt, das Verbrennen der eigenen Kräfte des Denkens in die adaequatio ad rem. Und so wiederum wird das Leben des Gesehenen zum Leben des Sehens selbst, beide schlagen ineinander, beschenken sich miteinander, konstituieren sich gegenseitig. Sehen, hinsehendes Denken wird der Vollzug des Einens, des „Und“.

Wenn aber solchermaßen Grenze in ihren Momenten das Leben des Sehens und des Gesehenen zugleich wird, dann eröffnet sich Sehen als Kunstwerk, der solchermaßen sehende Gedanke ist nicht Reproduktion, sondern in seiner Reinheit gerade neues, erstmaliges, anfangendes Vollbringen seiner Sache. Die zweite Spur holt also die erste ein.

Hinsehen, damit nur von sich her das Gesehene aufgehe und in solchem Aufgang das Hinsehen selber in seine kreative Angemessenheit ans Gesehene verwandle: das ist die Phänomenologie Bernhard Weltes, aber es ist sie noch nicht in der Fülle ihrer Dimensionen. Schon in dieser Formel, schon in dem, was das Ausziehen und Aufeinanderzu-Lesen der beiden Spuren der Genese des Gedankens zeigt, steckt ein doppelter Überschuß. Der Überschuß eben des Sehens über das bloße Registrieren, der Überschuß des Gesehenen über das Sehen, das nie am Ende ist, das sich weder je satt sehen noch je das Gesehene in sich hineinsehen könnte, so daß es darüber hinwegsehen dürfte. Nur im Je-Mehr des Sehens und des Gesehenen geschieht ihre adaequatio.

Doch in solchem doppelten Überschuß geht ein noch Verborgeneres, Grundlegenderes auf. Wir haben bereits in unserem Referat des Welteschen Vortrags die Umkehr des Sehens auf der zweiten Stufe, die Umkehr in die Herkunft bemerkt. Und wir haben des weiteren bemerkt, daß solche Umkehr im Hinsehen Weites auf die Phänomene, also auf die Wissenschaften und ihre Grenzen bereits vom Anfang her waltet. An dieser [20] Stelle nun löst sich ein bislang noch ungeklärter Widerspruch. Wie kann reines Hinsehen, reines Absehen von sich aufs Gesehene sich selber, sich als Sehen in den Blick bekommen? Sicher, die Tugenden des Sehens, also Geduld, Behutsamkeit und Mut, lassen besser und reiner sehen und machen zugleich das Sehen selber sichtbar. Aber woher wachsen diese Tugenden dem Sehen zu? Aus welcher Wurzel her ist es möglich, das Sehen so in den Blick zu bekommen, daß nicht es selber, sondern gerade das Gesehene sein Alles werde? Solches geschieht nur, indem Sehen über sich und sein Gesehenes hinaussieht, indem Sehen also nicht nur Grenze ist, sondern Grenze sieht. Nur in der Umkehr zur begrenzenden Grenze, zu jener, die so, wie sie hinter der Wissenschaft liegt, auch hinter dem Sehen liegt, eröffnet sich das einfältige Ganze, in welchem das Gesehene alles und das Sehen nichts, das Gesehene zugleich aber nicht alles und das Sehen nicht nichts, in welchem beide als ihre gegenseitige Begrenzung ihre gegenseitige Gewähr sind. Im anrührenden Umblick hin zu jener Grenze, von der aus Sehen und Gesehenes sich gegenseitig zugewiesen sind, aneinander und, wenn dieses Wort erlaubt ist, ineinander grenzend, gelingt jenes Sehen, das wir als die Phänomenologie Bernhard Weltes aus seinem gedachten Gedanken herausheben durften.

Im Denken der Grenze erreichen wir die Grenze des Denkens, von welcher aus es als der gegenseitige Aufgang und gegenseitige schöpferische Vorbehalt des zu Denkenden und des Denkens in sich selbst, in seine Klarheit und sein Wunder eingesetzt ist. Die Bescheidung des Denkens auf seine Sache, seine Nüchternheit und Strenge, sein Bleiben bei dem, was sein ist, fallen ihm zu allein aus diesem Denken seiner Grenze, in welchem sein anderes, sein Früheres, sein Aufgang geborgen und gegründet sind. Phänomenologie im Sinne Bernhard Weltes und Denken des undenklichen Geheimnisses im wahrenden, anrührenden Andenken sind selber, im Sinne von Grenze gedacht, eines.

Wie aber kommt der Gedanke dazu, sich umzuwenden in die je entgehende Herkunft? Kehren wir in die Bildlogik zurück, die sich uns auf der ersten Stufe des referierten Gedankens von Weite zeigte. Der Sehende schaut vor sich hin, schaut ins noch Unübersehene, das Stück um Stück gewonnen wird und doch noch grenzenlos das Ungesehene vor sich läßt. Er schaut zur [21] Seite und stößt so an die Grenzen der eigenen Sichtweise gegenüber anderen Weisen des Sehens. Dann aber rührt ihn – und dies ist das Auslösende der Umkehr – sozusagen vom Rücken her der Ruf: Wer hat mich gerufen? Und dieser Ruf, der zur Umkehr ruft und befähigt, ist zugleich jener, der auch nach vorne und zur Seite blicken läßt, jener, der Sehen allererst auslöst: Sieh doch! Im Eigensten und Innersten unseres Denkens und Sehens rührt und ruft uns etwas an, das nicht eigene Beliebigkeit oder blinder Zufall oder automatische Dynamik wäre. „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“.2

Hier geht uns ein Letztes auf, was endgültig die Phänomenologie im Denken Bernhard Weltes sprengt und doch ihr tiefster Antrieb und ihre überbietende Vollendung ist. Etwas, das sie selber zur Antwort und zum praeambulum macht. Eben der Ruf. Scheu und doch kühn hat an der Grenze der zweiten zur dritten Stufe seines Gedankens Bernhard Welte den Anfang der Heiligen Schrift zitiert. Die Botschaft hat ihm zugesagt, ausgelegt, bestätigt, gedeutet, zugespielt, was sein Sehen sah – und nun legt sein Sehen verstehend das aus, was das Wort ihm sagt, jenes Wort, das im Anfang ihn ins Sehen rief und am Ende das im Unsichtigen Gewahrte ihm zumutet und anvertraut. Hier ist eine letzte Grenze erreicht, eine, an welcher nicht mehr nur von der gegenseitigen Zuweisung und dem gegenseitigen Überschuß so zu reden ist wie bisher. Dieses Reden, alles Reden stößt hier an jene Grenze, an welcher es nur noch zu hören gilt. Aber indem das Wort gehört wird: „Es werde Licht!“, gehen dem Denken zugleich seine Augen auf, und es gewahrt jenes Licht, das es nicht aus sich selber zu gewahren vermag und doch nur mit seinen eigenen, wenn auch vom Licht für es selbst gestärkten Augen. Und in solchem Licht des sich offenbarenden Ursprungs sieht das Denken Licht, sein Licht. Und nur in seinem Licht, nur indem es Denken ist, kann es auch jenen Ruf und jenes Licht zur Sprache bringen und sich leuchten lassen, die im Anfang und der Anfang sind. Das göttliche Geheimnis und seine Offenbarung sprengen und eröffnen zugleich den Horizont der Phänomenologie Bernhard Weites, sie sind ihm die schöpferische, offenbarende, erlösende Grenze, die sie in ihr Eigenes einsetzt und über das bloß Eigene hinausruft.


  1. A.a.O. 72. ↩︎

  2. Es sei eigens vermerkt, daß hier das Bild des Sehens verlassen wird, daß hier ein Hören des Sehens eingeführt wird, dem Sehen sich allererst verdankt. Sehen geschieht im Hinsehen, Hinsehen aber ist ein Sehenwollen, Sehenwollen aber ist keine Beliebigkeit, sondern Gehorsam. Sehen sieht sich nur ganz, wenn es sich aus diesem Gehorsam, also aus diesem Hören her „sieht“. ↩︎