Die Zukunft der Zukunft

Das Wegmodell

[35] Wenn wir als Wanderer einen Weg machen, dann ändert sich beim Weitergehen nicht nur andauernd unser Standort, sondern auch die Perspektive. Wollte man die Geschichte einer Wanderung schreiben, dann müßte sie eher die Geschichte der gewandelten Perspektiven als bloß die Registrierung der durchlaufenen Standorte sein. Wo immer ich stehe, schaue ich, wie es weitergeht. Davon, wie es weitergeht, hängt ab, wie ich gehe. Und wenn ich dann weitergegangen bin, geht es je nochmals anders weiter, so daß Wanderung nicht bloß Vollstreckung einer Vororientierung auf ein Ziel ist, Wanderung ist vielmehr ständiger Korrekturvorgang, in dem die Zukunft des Weges auf dem Weg je neu entworfen wird. Aus dem je neuen, sich korrigierenden Entwurf bestimmt sich das jeweilige Gehen. Die Sorge ist, daß es einmal nicht weitergehen könnte, die Hoffnung ist, daß es zwar ungefähr so weitergeht, wie man es sich gedacht hat, aber eben doch nicht ganz nur so, wie man es sich gedacht hat. „Zukunft“ gibt es bei dieser Wanderung eigentlich nur, wenn mit der Planung die Überraschung schwesterlich Hand in Hand geht. Überraschung und Planung gehören zusammen. Die perfekte Planung, die alles im vorhinein aus- und absieht, die minutiöse Vollstreckung eines vorweggewählten Ansatzes, das störungslose Ablaufenlassen eines Programmes wären tödlich. Leben geschieht im immer neuen Vorgang der Zukunft, aus dem und aus der immer neu Gegenwart wird. Zukunft wächst dann aber nicht als Zukunft aus der Vergangenheit, sondern kommt als Zukunft aus der Zukunft. So dürfen wir es aufgrund dieser anfänglichen Beobachtung vermuten.

Daraus wachsen die Hoffnungen und Sorgen, die unser Verhältnis zur Zukunft abheben von dem zu Vergangenheit und Gegenwart. Wandert man nun in einem unvertrauten Gebiet, dann brechen Unsicherheiten und Befürchtungen auf, Fantasien und Ahnungen, die im Gewohnten und Heimatlichen zumindest nicht an die Oberfläche drängen. Daraus können Alpträume werden, wenn wir nicht nur die Wanderungen unserer Freizeit, sondern die Wanderung der Ganzzeit, die Wanderung unserer eigenen Geschichte in den Blick nehmen.

Stellen wir uns zum ersten einmal vor, es gehe immer nur so weiter, so und nie mehr anders. Alles bleibe einfach beim selben, so daß sich in einer grenzenlosen Wüste keine wechselnden Spiele des Lichts, keine zarten Krümmungen der Horizontlinie, keine Spiegelungen am Himmel oder auf der Erde, keine neuen Perspektiven, keine Überraschungen mehr ergäben. Alles ginge nur so weiter, perfekt ausgerechnet; alles liefe genau so, wie es vorbereitet ist. Hier hätte die Zukunft keine Zukunft mehr. Die Zukunft der Zukunft wäre beerdigt in eine transzendentale Vergangenheit, die nur zu vollstrecken wäre.

[36] Ein zweiter Alptraum: Plötzlich bricht es irgendwo ab. Alles ist aus: der Weg, das Leben, ich selbst, die Welt. Warum geht es weiter und nicht vielmehr nicht weiter? – so dürfen wir eine berühmt gewordene Frage variieren im Blick auf die Zukunft. Schließlich – ein dritter Alptraum – überfällt uns die Angst, daß wir irgendwo hineingeraten, von wo aus es kein Herauskommen mehr gibt. In einen Kessel also, in dem alle Perspektiven aufzählbar dieselben bleiben – und so besteht keine Möglichkeit mehr, sich in neue Perspektiven hinein zu befreien. Diese radikale Festlegung wäre das gräßliche Gleichbild der radikalen Offenheit, in der formal alles möglich und doch alles schon gelaufen ist.

Was sollen diese Bilder? Sie sollen unterschiedliche Ängste signalisieren, die kennzeichnend sind für unsere Situation. Wenn man mit vielen Menschen spricht, so spürt man, wie viele solcher Ängste in wie vielen Spielarten unter wie vielen Vorzeichen es heute gibt. Ich möchte nicht diese Ängste ängstlich oder genüßlich kultivieren, nicht sie zum Ein und Alles unseres Lebens machen. Ich weiß, daß es anderes gibt als diese Ängste, aber an ihnen vorbeizuleben hieße, an unserer Welt und an uns selber vorbeizuleben. In jeder Angst spielt die Zukunft mit, lebt konstitutiv ein Bild von Zukunft. Die genannten Alpträume eines Wanderers könnten uns behilflich sein, dieses Bild von Zukunft in jenen Ängsten zu erheben, die besonders kennzeichnend sind für unsere Situation.

Eine der Ursachen für die Erschütterungen und Unruhen der späten 60er Jahre war die weitverbreitere Angst vor einem Fortschritt, der aus vorgegebenen, nicht mehr abzuändernden Ansätzen immer weiter wächst und das Leben immer mehr zu einem geschlossenen System des Leistens, Funktionierens und Konsumierens macht.

Heute ist an die Stelle dessen für viele eine scheinbar gegenläufige Angst getreten: die Angst, daß es überhaupt nicht mehr weitergeht, daß die Ressourcen der Zukunft erschöpft werden und der Raum, den Leben morgen braucht, durch den Abfall unseres Produzierens und Konsumierens besetzt und aufgebraucht wird. Sicher, dies wird beinahe schon zu oft gesagt – aber haben wir den Mut, uns dem zu stellen?

Angst davor, daß es immer nur so weitergeht, Angst davor, daß es eines Tages plötzlich nicht mehr weitergeht. Beides gehört zu unserer Zeit. Und ein drittes dazu: die Angst vor der Engführung, vor dem Kessel, aus dem wir, uns im Kreise drehend, nicht mehr herauskommen. Ist nicht alles in Wissenschaft und Gesellschaft, Kirche und Staat so festgeschrieben und verpackt in Sicherheiten, Fertigkeiten und Brauchbarkeiten, daß nichts Neues mehr passieren kann? Man hat Angst davor, daß eine Angst in den Institutionen am Werke sei, die es nicht mehr zuläßt, daß etwas Neues passiert, weil sonst ja etwas passieren könnte! Sicher ist es rational nicht gerechtfertigt, allüberall das Ende der Freiheit zu wittern, überall Angst zu haben vor der Angst, die im Zugriff anderen und sich selbst die Freiheit abzuwürgen droht. Aber im Unbegründeten bricht eine Grund-Angst durch: Ist endlose Endlichkeit nicht das tötende Zerrbild jener Unendlichkeit, die zu unserer Freiheit gehört?

Gerade als Christen sind wir herausgefordert von dieser Angst, der Angst vor dem unentrinnbaren Rundlauf im Zirkel vorgefertigter Perspektiven und Möglichkeiten. Daß alles endlos weiterwächst und weitergeht, dem widerspricht die christliche Botschaft vom Ende und von der Unvollendbarkeit unserer Welt, von Gott, der kommen und alles neu machen wird. Daß alles abbricht und versinkt in ein zukunftsloses Ende, dem widerspricht dieselbe christliche Botschaft, der das Ende eben Münden in die Hände des erweckenden und verwandelnden Gottes bedeutet. Aber könnte es nicht sein, daß für den Christen gemäß seinem Glauben schon alles gelaufen ist, alles sich nur im Kreise dreht? Kennt Christentum eine offene Zukunft? In Jesus Christus ist das letzte und endgültige Wort der Geschichte doch schon gesprochen, kein anderer wird mehr [37] kommen als jener, der schon gekommen ist. Wo der Messias gekommen, wo das Eschaton angebrochen ist, hat da die Zukunft noch Zukunft?

Lenken wir auf die Situation bedrohter Zukunft der Zukunft noch von einer anderen Seite her unseren Blick: Eines der kennzeichnendsten Phänomene unseres Kulturraums und unserer Kulturzeit ist der Umstand, daß es so etwas gibt wie Jugend. Wo Jugend sich in ihrer eigenen Wertigkeit und Problematik zwischen das Kindsein und das Erwachsensein hineinschiebt, da gibt es geschichtlich etwas anderes als die bloß fraglose Übernahme des Vorgegebenen. Jugend lebt als Jugend nur, wo etwas Vorgegebenes übernommen wird durch die Anfrage hindurch, wo es hineingerückt wird in eine neue Perspektive, wo es von einer neuen Generation verwandelt werden kann. Die Hoffnung auf Verwandlung eines Vorgegebenen, die Hoffnung, daß Zukunft Zukunft haben dürfe, ist Grundbedingung dafür, daß es Jugend als Jugend gebe. Heute fürchtet die Jugend, daß sie nicht mehr Jugend sein darf. Sie kämpft um Freiräume – aber sind Freiräume Lebensraum oder nur eingezäunte Naturschutzparks? Jugend kann nicht Jugend sein, wenn die Zukunft nur Verlängerung der Vergangenheit ist; Jugend kann nicht Jugend sein, wo keine Aussicht auf Zukunft mehr sich öffnet; Jugend kann nicht Jugend sein, wo es keine Hoffnung auf das verwandelnd Andere und Neue mehr gibt.

Wir haben die Ängste genannt, die die Zukunft der Zukunft in Frage stellen. Zu unserer Situation gehören indessen auch andere, positive Zeichen. Etwa jene Unbefangenheit und Kreativität, die quer zum System unausrottbar da und dort aufbricht. Aber eben quer zum System! Das muß uns zu denken geben. Wir müssen uns fragen, ob die Hoffnung nur eine kleine Pflanze ist, die wir auf der Wanderung ins Nichts mit uns tragen, oder ob hier wirklich ein Terrain bebaut wird, auf dem Zukunft wachsen kann. Noch einmal: Ist Zukunft möglich? Hat die Zukunft ihre Zukunft oder können wir uns die paar Perspektiven schon ausrechnen, welche die Zukunft morgen haben wird, so daß es also das Übermorgen gar nicht mehr gibt, sondern nur noch das stets verlängerte Morgen, schon angebrochen im Gestern, das uns überkommen ist?