Technik und Weisheit

Das Wesen der Technik*

Moderne Technik hat ihre Voraussetzung zunächst in der Dekomposition der Gegenstände in ihrer Unmittelbarkeit. Sie nimmt das Vorfindliche zunächst auseinander, löst es aus dem vorgegebenen Zusammenhang, damit es bearbeitbar wird. Ein Seinsprinzip – ens quo wie die Scholastik sagte – wird zum [103] ens quod. Die einer Sache innewohnende Materie, welche mit ihrer Form zusammen die Sache bildet, wird aus der Form gelöst; die Form wird zertrümmert und aus der Materie wird Material, aus dem dann wiederum etwas produziert werden kann. Technik braucht „Rohstoffe“, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst sind. Dann aber gilt es, das Dekomponierte wieder neu zu montieren und es in eine Form zu bringen. Vorgegebene Formen werden wiederum dekomponiert und in neukomponierte Formen umgesetzt. Den entworfenen Formen wird dann Material eingegossen. Dekomposition und eine Neukomposition sind notwendige Momente der modernen Technik.

Aber diese Überlegung genügt nicht als zureichende Beschreibung: Dekomposition und Komposition geschehen letztlich in jedem handwerklichen Fertigen von Gegenständen. Was ist das Spezifische der neuzeitlichen Technik? Der beschriebene Vorgang beschränkt sich in ihr nicht auf den Einzelfall, sondern im technischen Zeitalter kommt etwas über den Menschen und die Welt, was die Sicht auf das Ganze regelt. Dinge werden wesentlich als Material angeschaut; Welt wird Material; Formen werden Programme, die in einer beliebigen Anzahl etwas herstellen lassen: Die moderne Technik definiert Programme und sucht Mittel, sie zu realisieren. Die Welt wird zum Feld im vorhinein bereitgestellter Möglichkeiten.

Besonders kennzeichnend für neuzeitliche Technik ist in diesem Zusammenhang das Interesse für Materialien in sich, für Pläne, für Gedanken in sich, für Produzierbares in sich und für Energie, die als solche zur Verfügung gestellt werden muß; „Rohstoffe“, Programme, Energie können dann vom Menschen frei komponiert werden. Welt erscheint grundsätzlich als de- und komponierbar. Vom Menschen als sich absolut setzenden Ursprung her wird alles neu zusammengesetzt. Das bringt ungeheure Freiheit, aber zugleich in dieser Freiheit den Zwang mit sich, alles aus der so vorgegebenen Perspektive zu konstruieren.

Ein Einwand könnte sich freilich erheben: Dieses Wesen von Technik – wenn es denn so zu begreifen wäre –, werde nie „rein“ vom Menschen realisiert: Die Welt sei nie eine rein technische. Dieser Einwand trifft. Aber die Tatsache, daß von vornherein nicht mehr Materie und Form, sondern Material und Programme, nicht mehr das Tun des einzelnen, nicht mehr ein vorgegebener Zusammenhang, sondern das Zerreißen von Zusammenhängen in Arbeitsteiligkeit und andere Weisen von Teilungen, welche dann erst wieder durch Universalprogramme zusammenzumontieren sind, leitend werden, ist das Charakteristikum einer technischen Gesellschaft; diese leitet ein grundsätzlich anderer Ansatz von Dasein als die vortechnische Gesellschaft.

Moderne Technik läßt sich als Weise einer konkreten, praktischen Abstraktion, einer „abstractio in concreto“, fassen. Abstraktion findet in der klassischen, zumal scholastischen Philosophie ihre Bestimmung darin, daß vom vorfindlichen „Dieses da“ das Wesensbild erhoben wird. Dieses in sich angeschaute Wesensbild wird in seiner vielfältigen, im Grunde unabschließbaren Verwirklichung in vielen Individuen bzw. in vielen Existierenden entdeckt. Moderne Technik erscheint nun als tiefgreifende Modifikation dieses Vorganges: Bilder werden von der Materie losgelöst und verworfen, neu entworfen zum selbstgemachten Programm; geeignetes Material wird gesucht, bearbeitet, hergestellt; Wirklichkeit wird produziert: Die Produktion von Wirklichkeit nach vom Menschen entworfenen Bildern ist eine Weise, wie Technik begriffen werden kann.

Ein schwerwiegender Einwand kann sich gegen diesen Versuch einer Beschreibung des neuzeitlichen technischen Vorganges erheben: Technik „macht“ sich nicht zuerst nur die Programme – was wollen wir, und wie erreichen wir das? –, sondern sie geht zugleich in umgekehrter Richtung vor. Im Spiel mit den Grundmaterialien, im Spiel mit den technischen Möglichkeiten, im Spiel mit der Energie wird entdeckt, was möglich ist. Wir gehen nicht mehr von dem zu Ermöglichenden aus, um es zu verwirklichen, sondern von Möglichkeiten als solchen, die uns zu dem inspirieren, was sich verwirklichen läßt.

Gegenläufige Bewegungen bestimmen also die moderne Technik: Das in sich stehende Programm ist im vorhinein entworfen; es entzieht sich in seiner Komplexität dem jeweiligen unmittelbaren Zugriff. Dieses Programm ist leitend, und alles wird zum Mittel, um dieses oder jenes zu erreichen. Möglichkeiten werden in sich entfesselt, und dann erst wird geprüft, was aus diesen Möglichkeiten wird. Dies sind die Ansätze, die das technische Zeitalter prägen, [104] wenngleich ihr Ursprung weit in die Geschichte zurückzuverfolgen ist.

Überraschendes kommt freilich in diesem Zusammenhang beim Rückgang auf das Verstehen der Weisheit vom Vorgang der Technik her in den Blick: Fragen wir philologisch dem Terminus „Weisheit“ nach, ergibt sich ein erstaunlicher Befund. „Weisheit“ im thematischen Sinn ist erst spät durch eigene Termini belegbar. Diese auffällige Enthaltsamkeit der Sprache verweist darauf, daß zunächst jegliches Wissen, praktisches Können und Weisheit zusammengesehen wurden. Das Andersartige der Weisheit gegenüber dem praktischen Wissen kam ursprünglich nicht in den Blick. Die Ordnungen waren ungeschieden, und in elementarer Ganzheit lagen Wissen und Weisheit, Können und Weisheit nahe beieinander. Über Weisheit wird eigens erst von dem Augenblick an reflektiert, in dem der Mensch entweder auf die Idee des Machens in sich oder des Denkens in sich kommt. Der Gedanke wird zu dem, womit man spielen kann – er läuft in sich, ist abgehoben und gelöst von der Rückbindung an die Wirklichkeit und verweigert sich so seinen Folgen. Das Tun verselbständigt sich gleichermaßen. Die Magie des Denkens und die Magie des Machens, die sich aus dem lebendigen Zusammenhang lösen, rufen erst die Reflektion auf Weisheit heraus. Technik ist eine Bedingung von Weisheit in ihrem Unterschied zur Technik.

Moderne Technik darf also nicht als bloße Bedrohung der Weisheit diskreditiert werden, sondern der technische Vorgang ist auch als ein Entdecken eigener Möglichkeiten verstehbar, das neu zur Besinnung auf das Ganze führt; in dieser Besinnung werden diese neuen Möglichkeiten und ihre Einordnung ins Ganze von Wirklichkeit selbst fragwürdig. Deshalb sind die kritischen Anfragen an die moderne Technik, in denen deren Einseitigkeiten herausgehoben wurden, zunächst als Herausforderungen zu verstehen, sich zugleich zu vergewissern, wie die Technik den neuzeitlichen Menschen in die Notwendigkeit eines neuen Zusammenhanges weist. Technik gehört durchaus zu jener Grundbewegung des Menschen, sich nicht mit dem zufrieden zu geben, als was er sich und die Welt unmittelbar vorfindet – sich zu transzendieren. Technik ist so ein Moment jener Vermittlung, in welcher der Mensch sich selber die Dinge unmittelbar werden läßt, um die Ziele, die über Unmittelbarkeit und unmittelbare Möglichkeiten hinausweisen, realisieren zu können.

Die durch die moderne Technik ermöglichte Transzendenz aber ist eine Transzendenz auf der Ebene des Erreichbaren und Beherrschbaren. Was der Mensch kann und zu beherrschen vermag, soll technisch erreicht werden; was aber nicht erreichbar und beherrschbar ist, liegt außerhalb der Technik, und so muß die technische Transzendenz auf die Immanenz in ihrer Ordnung hin befragt werden. Die Frage der Weisheit stellt sich neu als die nach den vielen Ordnungen.

Gehen wir dieser Frage, die mit Grenzen und Möglichkeit der Technik verbunden ist, im folgenden nach, und benennen, ohne fertige Lösungen vorzugeben, jene Aufgaben, welche sich der Weisheit aus ihrer Begegnung mit der Technik stellen.