Technik und Weisheit
Das Wesen der Weisheit*
Wer im Blick auf die moderne Technik deren Faszination erliegt, so daß er sich von dem gefangennehmen läßt, was sie zustande bringt, oder wer vor ihr flieht angesichts der ihr zugleich innewohnenden Möglichkeiten der Zerstörung, setzt sich der Vermutung aus, nicht wahrhaft weise zu sein. Wer undifferenziert den Hinweis auf unabsehbare und gefährliche Zweitwirkungen eines technischen Verfahrens beiseite schiebt, oder wer sich nur in der [102] Ängstlichkeit vor dessen Zweitwirkungen einschließt, diese aber nicht prüft und abwägt, von dem wird man sagen, er sei nicht weise. Weise ist jener, der im Daß das Nicht und im Nicht das Daß entdeckt; weise ist jener, der weiß, was er nicht weiß in dem, was er weiß, und der weiß, was er weiß in dem, was er nicht weiß.
Weisheit wird stets begleitet von Differenzierungen, von Kritik als dem Vermögen der Unterscheidung. Unkritische Annahme und Ablehnung zeigen ein Fehlen von Weisheit an. Der kritische Mensch kann sich nicht darauf beschränken, allem gegenüber nur Vorbehalte anzumelden und sein „Ja – aber“ anzubringen, sondern er wird in seiner Unterscheidung jeweils Perspektiven eröffnen müssen und so die Flächigkeit scheinbar einfacher Verhältnisse aufbrechen. Er wird nicht in einer Dimension verharren, sondern in jene Tiefe vorgehen, in der ein Ja ein Nein und ein Nein ein Ja umfangen kann. Es genügt also nicht, die Verhältnisse allein formal auseinander- und zusammenzuhalten – abstrakt das Daß im Nicht und das Nicht im Daß zu entdecken – und sich auf ein dialektisches Spiel zu beschränken. Wer sich mit Dialektik in diesem Sinn begnügt, setzt sich dem Verdacht aus, nicht weise, sondern sophistisch vorzugehen, denn er dringt nicht zur wahren Erkenntnis der Verhältnisse in ihrem Zusammenhang vor.
Nur der ist weise, der den Zusammenhang jeweils als einen Zusammenhang im Unterschied verschiedener Ordnungen erkennt. Blaise Pascal spricht von der notwendigen Wahrnahme der „wesenhaft verschiedenen Ordnungen“ (Fragment 793 der Pensées) und sperrt sich gegen jede Bürokratie der einen Ebene – sei es nun die der Technik (bzw. der ihr zugeordneten Wissenschaft) oder aber etwa die der Religion; wer alles auf die Ordnung des pragmatischen Umgehens oder der theoretischen Berechnung und Erforschung reduzierte, der wäre nicht weise.
Darin liegt ein weiteres, wichtiges Merkmal der Weisheit: Sie beschränkt sich nicht darauf, die verschiedenen Ebenen wahrzunehmen und bloß von außen anzuerkennen, sondern sie kennt sich in ihnen aus, weiß sich in ihnen und so zu ihnen zu verhalten. „Man muß zu zweifeln verstehen, wo es notwendig ist, sich Gewißheit verschaffen, wo es notwendig ist, und sich unterwerfen, wo es notwendig ist.“ (Vgl. Fragment 267 der Pensées Blaise Pascals). Die Unterscheidung der Ordnungen in der Vielheit des Umgangs mit ihnen ist ein Merkmal der Weisheit.
Aber auch dieses Charakteristikum der Weisheit ist durch ein anderes zu ergänzen, das ebenfalls im Gedankengang Pascals stets gegenwärtig ist: Wer Ordnungen in ein System brächte, in welchem alles und jedes verstaubar wäre, dem fehlte es an Weisheit. Lebendige Zusammenhänge dürfen nicht zum System erstarren: Das Wissen um Unabschließbarkeit von Ordnungen, die Unabschließbarkeit von Wahrheit, gehört zum Weisesein. Das System, in dem alles und jedes immer schon seinen Platz zugewiesen vorfindet, so daß das System den Weisen stellvertretend ersetzen könnte, ist das andere der Weisheit.
Der Weise ist immer schon so sehr als er selber im Spiel, daß er nicht durch irgendeine Objektivation seiner Weisheit ersetzbar ist, sondern er ist in der unabschließbaren und je neu sich verantwortenden Offenheit für viele Ordnungen je neu als er selber gefragt. Aber auch dies darf wiederum nicht zum System werden: Wo wir uns gegen das Endgültige und Absolute sperren, wären wir selber in die Falle der eigenen Systemfeindlichkeit gelaufen. Pascal betont: Es muß unterschieden werden, wo es zu zweifeln, wo es sich zu vergewissern und wo es sich zu unterwerfen gilt.
Technik kann folglich nur im Raum eines universalen, offenen, unabgeschlossenen Sehens der Wirklichkeit im Ganzen angemessen bedacht werden. Gerade aus diesem Grund steht im Thema nicht „Technik und Ethik der Technik“, sondern „Technik und Weisheit“. Soll eine Ethik der Technik entworfen werden, gilt es zunächst, den Boden dafür durch Unterscheidung der fundierenden Ordnungen zu bereiten. Wie läßt sich nun angesichts dieser Überlegungen der Vorgang der Technik beschreiben? Wie können wir vor das Eigene der Technik kommen?