Das Heilige und das Denken
Das wirkliche Zueinander: Denken als sich überfragende Anfrage
Wie aber kommt sich helles, sich gegenwärtiges Denken als lassendes in die wirkliche Gegenwart des Heiligen? Bislang war die Rede nur von einem „möglichen“ Heiligen, dieses aber ist als bloß möglich gerade nicht heilig, weil nicht betreffend und berührend und so auch nicht unberührbar. Doch nun geht es um das Heilige in seiner Heiligkeit und damit das gegenständlich Wirkliche schlechthin übertreffenden Wirklichkeit. Gibt es dieses Heilige, und wie gibt es sich dem Denken?
Als die gemäße Weise des Denkens vor dem Heiligen ergab sich bereits das Zugleich von Frage und Anrede in der Anfrage. Frage tut not, weil es dem Denken auf die sich klärende Gewißheit, etwas von Art der Anrede tut not, weil es ihm hier aufs Heilige, und d. h. auf ein sich der gegenständlichen Schlüssigkeit seiner selbst Entziehendes, über ihr Draußenliegendes, ankommt.
In der Frage bezieht Denken sein Befragtes auf sich, zu sich her, [26] in der Anrede entschlägt es sich einer aus sich selbst erstellbaren, es mit sich allein und so in seiner selbstvermochten Gegenwart belassenden Antwort. Es gibt die fragende Beziehung auf sich selbst anfragend also zugleich über sich hinaus frei, läßt das „Fassende“ der Frage. Um zum wirklichen Heiligen zu kommen, um des Heiligen im Denken gewiß zu werden, muß das Denken indessen dieses sein Ziel vergessen, ja aufgeben. Die „Anrede“ darf nur in der Weise der lauter alles zulassenden Offenheit im Denken anwesend, dieses selbst muß, in solcher Offenheit, „fragender“ als jede bloß auf faßliche Antwort es absehende Frage, es muß reine Frage und ganz und gar Frage sein. Das „Anredende“ der Anfrage meint also nicht ein Fixieren der Frage auf eine vorausgesetzte und so doch zugleich vergegenständlichte und unerwiesene Instanz hin, sondern die sich lassende Freigabe der Frage über sich hinaus.
Die Frage, in der sich das Denken in seiner Beunruhigung vom Sein und in seiner Verantwortlichkeit vor ihm, in seiner Helle für sich selbst also durchhält, hat drei Grundrichtungen: sie gehen aufs Daß, aufs Was und aufs Warum.
Wo immer dem Denken etwas aufgeht, geht ihm etwas auf, erschließt sich ihm ein Gehalt, ein Was, denkt sich Denken, was da sei. Dies die erste Fragerichtung. Des Gehaltes, des Was inne, prüft das Denken das Zugehören seines Gedachten zu dem, was dieses Gedachte meint, zu dem, was ist: Ist das auch so, wie ich es dachte? Entspricht dem Gedanken, den das Denken dem Aufgehenden anmaß, dieses Aufgehende selbst? Ist sein Gedachtes, sein im Aufgang dem Aufgehenden entgegengebrachtes, angebotenes Was auch nicht bloß gedacht, gehört es dem, was ist, zu? Dies die zweite Fragerichtung, die aufs Daß, auf die Sicherung der Wirklichkeit geht. Die dritte bezieht das, was dem Denken aufging, in das Geschehen seines Aufgangs und alles Aufgehenden. Denken ist nicht zufrieden mit der Zugesellung und Absicherung dessen, was ist, zu seinem Gedanken, oder, was dasselbe heißt, dessen, daß etwas ist, zu seinem Wesen und dieses Wesens zur Wirklichkeit. Denken versteht sein Gedachtes und sich in ihm [27] nur, indem es den Bezug des Woher und Wohin, Sinn, Ziel und Herkunft, indem es also den Grund dessen klärt, was ihm aufgeht: Frage nach dem Warum in allen seinen Dimensionen.
Im Sich-Zeigen entsteht dem es gewahrenden Zusehen ein Bild, ein Licht: das Was. Dieses Bild und Licht gehört nicht sich, sondern weist auf das, dessen Bild und Licht es ist, aufs Daß. Sich-Zeigen umgreift Entstehen des Bildes und Herkunft von seinem Ursprung, durchmißt in sich selbst einen Weg, stiftet und ist Beziehung, stößt das Denken übers punktuelle Hier und Jetzt hinaus: ins Woher und Wohin, ins Warum.
Solches dreigerichtetes Fragen geschieht in der denkenden Bewältigung des Seienden, im fassenden Denken, es sichert und festigt sein Ist-sagen. Es vermag aber auch dieses Fassen freizugeben und loszulassen über sich hinaus, alle Bescheid wissende (was), behauptende (daß) und erklärende (warum) Sicherheit in Frage zu stellen, d. h. sie zu beunruhigen vom Sein her und dieses Sein selbst aus seiner Selbstverständlichkeit hinweg zu beunruhigen, den Bezug des Denkens zum Sein als das schlechthin Unselbstverständliche zu offenbaren.
Was ist es denn mit alldem, was ist und was das Denken denkt? Ist alles überhaupt, wie es ist und wie das Denken es denkt? Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts, warum gar denkt Denken und fragt sein Fragen überhaupt?
Solche Frage verbittet sich jede Antwort, denn diese müßte hinter dem unbedingten Maß der Frage zurückbleiben, von diesseits dessen antworten, über was die Frage hinausfragt, die das Denken – und damit den Bezug des Denkens zum Sein und damit sich selbst als Frage – in Frage stellt. Soll die Frage also unterbleiben, sollen Denken und Fragen sich unbedacht und ungeklärt ihrem Zug überlassen, im Umtrieb ihres Geschehens aufgehen? Oder sollen sie, die von innen nicht aufhören können, ohne ihrem Wesensmaß, nie am Ende zu sein, untreu zu werden, doch aufhören an diesem Ende? Oder sollen sie weitergehen, sich lassend und nicht fassend, nicht greifend mehr, sondern verweisend, eben als Anfrage?
[28] Diese ist ihre innere, aber eben unerzwingbare Wahrheit. Denken kommt an dieses Ende, dem es mit begreifender Auskunft nicht gewachsen ist. Es stellt alles in seine Gegenwart, indem es alles befragt. Es selbst aber wird sich zur Gegenwart, die nicht mehr aus ihm selbst, sondern aus einem ihm Entzogenen her gegenwärtig ist – aus einem ihr freilich so abgründig Entzogenen, daß es selbst die Entzogenheit als feststellendes Prädikat des Denkens abweist.
Selbst wenn das Denken in ungebrochenem Selbstvertrauen auf seine letzte Befragtheit durch sich selbst antworten wollte, es gegenwärtige sich rein aus sich allein, so gäbe diese Antwort an sich selbst die Frage zurück, in die jede nur faktische Auskunft das Denken führt, das mit nichts und am wenigsten mit sich selbst als bloßem Faktum zufrieden sein kann. Schlösse sich der Kreis des Denkens in der Tat in sich selbst, so müßte vor diesem sich restlos in sich fassenden Kreis gerade das Denken fassungslos verstummen: Was ist es, und woher rührt es, daß ich mich aus mir selbst erhebe und in mir selber schließe? Gerade ein Denken, das nur mit sich selbst anfinge, wäre sich das Befremdlichste und Erstaunlichste. Indem das Denken in seinen Gang kommt, der doch, um als Denken sich hell zu sein, notwendig ein Gang des Sich-Befragens ist, kommt es nicht umhin, sich zu überfragen. Daß Denken denkt und Denken fragt, stellt selbst dem Denken die Frage, was das heiße und warum es denke und frage.
Doch darf das Denken so überhaupt fragen? Hat es sich nicht einfach damit zu bescheiden, daß ihm sein eigener Gang und daß ihm auf diesem Gang das, was ist und als solches sich zu fassen gibt, zu denken gewiesen ist?
Gerade wo das Denken aber solche Bescheidung sich auferlegt sieht, gerade wo es zu seiner Endlichkeit sich entschließt, zeigt es sich verwundet von dem Anderen seiner selbst, das nicht mehr an sich selber gedacht werden kann.
Zwei äußerste Positionen des Denkens sind denkbar: In der einen setzt das Denken, seiner Ursprünglichkeit und Unendlichkeit inne, sich selbst als das schlechthin Ganze und Erste, lebt von dem [29] inneren Imperativ, nichts ungedacht sein lassen zu dürfen, allem nur Faktischen und Verfügten mit seiner Frage also zuvorzukommen. Dieses Fragenmüssen, dieses Nichts-unbedacht-sein-lassen-Dürfen aber, Frage und Denken selbst also, entziehen sich jeder sie erklärenden Frage in den Abgrund einer sie unerfindlich an sich selbst verweisenden Herkunft.
In der entgegengesetzten äußersten Position geschieht insgeheim dasselbe: Das Denken weiß um seine Grenzen und ergreift sich selbst und sein zu Denkendes nur innerhalb ihres Maßes. Das innere Pathos des sich unbedingt und unendlich setzenden Denkens sagte: Ich darf nichts ungedacht sein lassen, soll, ja muß alles in mich und meine frühere Ursprünglichkeit hinein aufheben! Das sich bedingt und endlich nehmende Denken aber hat nicht minder sein Pathos, das der Wachsamkeit, die Grenze nicht zu überschreiten, ihrer inne zu sein, innerhalb deren es sich als Denken bewähren kann, als Denken sein darf. Gerade die Nüchternheit dieser Bescheidung birgt in sich den Ernst der Verantwortung, der nichts mehr nur vom Denken Ausgedachtes, sondern das anfänglich ihm Zugedachte ist. Ja, wollte gar das Denken mißtrauisch gegen sich selbst sich nur als Funktion eines übergeordneten materiellen oder biologischen Systems verstehen, so hätte die Redlichkeit, mit der es nicht mehr sein will, als was es ist und also sein darf, ihre Herkunft gerade von einem unberührbar gewährenden Maß, das selbst kein endliches Datum ist. Hinter das Interesse des Denkens, das zu sein, was es ist und also sein darf, kann kein erklärender Gesichtspunkt das Denken zurückführen, und in diesem Interesse hat es sich selbst bereits je über alle seine Endlichkeit hinaus, ja über alle Absolutheit sich selbst absolut setzenden Denkens hinaus übertroffen; denn auch das letztere vermag seinerseits es selbst zu sein nur aus dem ihm selbst entzogenen Woher, das ihm zuweist, Denken und in sich selbst entspringendes, absolutes Denken zu sein.
Die umrissenen gegensätzlichen Gestalten des Denkens – jene, die kein Heiliges kennt, weil sie das Denken selbst als den unbe- [30] dingten, in sich hellen und nicht hinter sich zurückweisenden Anfang versteht, und die andere, die kein Heiliges kennt, weil sie Denken sich in der Reichweite seines Fassens erschöpfen sieht – sind im Widerspruch miteinander verbunden und weisen auf ein selbes: Sich absolut setzendes Denken darf nichts ungedacht, nichts von sich unberührt und undurchdrungen, nichts sich heilig gelten lassen – aber woher rührt dieses Nicht-Dürfen?
Sich in seiner Endlichkeit ergreifendes Denken darf seine Grenzen nicht überschreiten, nicht sich hinauswinden durch ein Denken des Undenkbaren, Heiligen, in den Bereich des ihm einfachhin Entzogenen, Nichterscheinenden, daher notwendig fürs Denken Nichtigen. Woher aber wiederum dieses Nicht-Dürfen, diese Bindung ans Wesen? Beidemal ist Denken, so unterschiedlich es sich versteht, darin sich eins: gebunden zu sein ans Maß seines Wesens. Es ist nicht verwiesen an „Etwas“, an einen „anderen“ Bezirk, aber in der Verwiesenheit an sich selbst betroffen und durchdrungen von der Schranke, die es sich selbst gewährt und an sich freigibt, und von dieser Schranke her verwandelt und emporgerissen aus einem bloß formalen Ablauf seiner selbst in den Ernst und die Verantwortung für sich selbst.1
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Ludwig Wittgenstein schreibt 1930 im Vorwort zu „Philosophische Bemerkungen“, 1. Aufl, hg. v. Rush Rhees, Oxford/Frankfurt a. M. 1964: „Ich möchte sagen, ‚dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben‘, aber das wäre heute eine Schurkerei, d. h. es würde nicht richtig verstanden werden. Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben, und soweit es nicht mit gutem Willen, also aus Eitelkeit etc., geschrieben, soweit möchte der Verfasser es verurteilt wissen. Er kann es nicht weiter von diesen Ingredienzen reinigen, als er selbst davon rein ist.“ ↩︎