Theologie als Nachfolge
Das Wort geht an die Kirche
Bonaventura verfolgt mit seinen Werken ein unverkennbares Interesse: das Interesse daran, daß sein Hörer oder Leser sich auf einen Weg des Denkens und Lebens macht. Dieser Weg des Denkens und Lebens ist für Bonaventura nicht ein beliebiger Vorschlag, sondern eine Berufung: entweder „allgemein“ christliche Berufung durch das an alle ergangene Wort Gottes in Jesus Christus oder „besondere“ Berufung im epochalen Kontext der franziskanischen Bewegung. Bonaventuras Sprechen und Denken wollen den Ruf zur Nachfolge präzisieren, drängend nahebringen und wollen die Berufenen dazu disponieren und motivieren, auf diesen Ruf einzugehen. Daß Bonaventura mehr will als bloß intellektuelle Zustimmung, bekundet mit besonderer Eindringlichkeit etwa seine „Warnung“, die er an den Anfang des Itinerarium setzt: „Zunächst lade ich den Leser ein, nicht etwa zu glauben, ihm nütze Lesung ohne Salbung, Spekulation ohne Devotion, Forschung ohne Bewunderung, intellektuelle Orientierung ohne Begeisterung, Fleiß ohne Frömmigkeit, Wissenschaft ohne Liebe, Einsicht ohne Demut, Studium ohne göttliche Gnade, Sehkraft ohne gottgeschenktes Licht.“1 Mit solchem Interesse steht Bonaventura in der Bundesgenossenschaft des Rufes, des Wortes, er ist, auch wo er reflektiert, im Grunde ein Verkündiger.
Wenn wir nach dem theologischen Ansatz Bonaventuras fragen, dann heißt eine erste und allgemeinste Antwort: Sein Ansatz ist der Ansatz des Wortes. Mit Bedacht sagten wir nicht: Ansatz beim Wort; denn das Wort wird nicht thematisiert aus einer [37] Distanz zum Wort, sondern im Mitgehen mit dem Wort – Nachfolge wird nur in der Nachfolge und nicht jenseits von ihr reflektiert. Solches Vorgehen unterläuft Bonaventura nicht einfach selbstverständlich, aus der Situation, in der er mit seinem Sprechen faktisch steht; vielmehr hebt er ausdrücklich die Notwendigkeit seines Ansatzes ans Licht. Die erste Frage, die er sich in seinem Spätwerk, den Collationes in Hexaemeron, den Predigten zum Sechstagewerk, stellt, lautet: An wen muß – ja kann allein – das Wort ergehen?2 Bonaventura fängt also zu predigen an, und er fragt, welches die Stoßrichtung, die innere Verlaufsrichtung seines Wortes, damit aber des Wortes, das er zu verkünden hat, sein müsse. Der Adressat ist ihm nichts Selbstverständliches, sondern der dem Wort An- und Zuzumessende, Wort und Hörer stehen in einer durch das Eigentümliche dieses Wortes bestimmten Korrelation. Der Ansatz des Wortes zum Hörer hin, die Beziehung, die es zum Hörer schafft und zugleich beim Hörer voraussetzt – in der Konsequenz wird sich zeigen: die es sich selber beim Hörer voraussetzt –, dies also ist der Ansatz Bonaventuras.
Bonaventuras Antwort auf die Frage, die er an sich selber richtet, ist freilich schockierend. Wohin spricht Gottes Wort, wohin setzt dieses Wort an? Wir Heutigen würden kaum zögern zu sagen: Adressat ist der ohne dieses Wort heillose, in sich selbst verfangene, der suchende Mensch. Bonaventura aber sagt: Das Wort ist zu richten „an die Kirche; denn das Heilige darf nicht den Hunden und die Perlen dürfen nicht den Schweinen vorgeworfen werden“3. Liegt hier einfach der Triumphalismus und die Selbstgerechtigkeit des geschlossen christlichen Zeitalters vor, das ein Außen nicht kennt und nicht duldet? Der weitere Gang der Explikation nimmt eine andere Wendung.
Natürlich weiß Bonaventura, daß Gottes Wort ein Geschenk an jene ist, die aus sich selber es gerade nicht vermögen und verstehen. Er weiß aber auch, daß dem Sprung des Wortes der Sprung des Hörens entsprechen muß, daß das Wort eines Hörens bedarf, welches diesem Wort zugestaltet sein muß. Bonaventuras scheinbar so besitzsichere Antwort klärt sich als höchst selbstkritisch: [38] „Zunächst ist von uns selbst zu sprechen und zu sehen, wie wir sein müssen. Trifft nämlich der Lichtstrahl in ein krankes Auge, so wird dieses eher geblendet als erleuchtet.“4