Wahrheit und Zeugnis

Das Zeugnis als Zeitigung der Wahrheit

Der Mensch als Zeuge der Wahrheit, diese Aussage ist so radikal und ernst gemeint, daß, wie angedeutet, auch die Umkehrung gilt: Die Wahrheit ist wesenhaft als Zeugnis und durchs Zeugnis beim Menschen und unter Menschen.

Gewiß gibt es vielfältige Weisen, wie Wahrheit dem Menschen aufgeht. Es gibt die Wahrheit dessen, was so ist, weil es nicht anders sein kann, die Wahrheit dessen, was logisch mit immanenter Notwendigkeit sich dem Denken in sich selbst aufschließt. Es gibt die Wahrheit der unmittelbaren Erfahrung, gibt die Wahrheit, die in der wissenschaftlichen Bewältigung der Erfahrung, kantisch gesprochen: durch die Anwendbarkeit synthetischer Urteile a priori aufs Erfahrbare erschlossen wird. Es gibt, scheinbar daneben, die Wahrheit des nur mittelbar dem Menschen sich Gebenden, das er nur durchs Zeugnis erreichen kann. So scheint Zeugnis also einer unter vielen Zugängen zur Wahrheit zu sein.

Aber bezeugt sich im Zeugnis Wahrheit nicht in einer umfassenderen Weise als in den anderen Weisen der Wahrheitserschließung? Und kommt in dieser umfassenderen Weise Wahrheit nicht intensiver zum Vorschein? Hebt sich Zeugnis so nicht über die Nebeneinanderreihung von Zugängen zur Wahrheit hinaus? Wir haben mit unserer Aussage, daß Wahrheit sich wesenhaft im Zeugnis vorbringe, gerade dies im Auge. Es wäre möglich, dies in einer Erörterung dessen, was das Herz oder was die drei Ordnungen in Pascals Pensées bezeichnen, zu erhellen.1

Einen vielleicht noch unmittelbareren Weg führt uns eine Bemerkung Franz Rosenzweigs in seinem Aufsatz „Das neue Denken“. [70] Rosenzweig spricht dort vom Begriff der „Bewährung der Wahrheit“, die zum Grundbegriff einer „neuen Erkenntnistheorie“ werden müsse, „die an die Stelle der Widerspruchslosigkeits- und Gegenstandstheorien der alten tritt und an Stelle des statischen Objektivitätsbegriffes jener einen dynamischen einführt“. Rosenzweig fährt fort: „Die hoffnungslos statischen Wahrheiten, wie die der Mathematik, die von der alten Erkenntnistheorie zum Ausgangspunkt gemacht wurden, ohne daß sie dann wirklich über diesen Ausgangspunkt hinauskam, sind von hier aus als der - untere - Grenzfall zu begreifen, wie die Ruhe als Grenzfall der Bewegung, während die höheren und höchsten Wahrheiten nur von hier aus als Wahrheiten begriffen werden können, statt zu Fiktionen, Postulaten, Bedürfnissen umgestempelt werden zu müssen. Von jenen unwichtigsten Wahrheiten des Schlages ‚zwei mal zwei ist vier', in denen die Menschen leicht übereinstimmen ... , führt der Weg über die Wahrheiten, die sich der Mensch etwas kosten läßt, hin zu denen, die er nicht anders bewähren kann als mit dem Opfer seines Lebens, und schließlich zu denen, deren Wahrheit erst der Lebenseinsatz aller Geschlechter bewähren kann.“2

Wahrheit erfordert also die Angemessenheit des wahrnehmenden Organs an das Wahrgenommene, an das als wahr Angenommene. Eine zwingende Wahrheit braucht das Organ zwingender Erkenntnis, d. h. das von allen subjektiven Bedingungen geläuterten reinen Denkens. Dies ist die Höhe, dies ist aber auch die Endlichkeit zwingender Erkenntnis: nur was sich von sich her zwingend dartut, nicht also, was die unerzwingbare Freiheit angeht, ist ihre Sache.

Schon etwa das Ästhetische ist nicht mehr es selbst, wo es in zwingenden Maximen, in notwendigen Denkzusammenhängen aufgelöst und in ihnen allein gefaßt ist. Das Mitspielen und Sich-Einschwingen in das Spiel des Schönen ist nicht mehr zwingend, und nur wer jenes in sich zum Einsatz bringt, was nicht erzwungen werden kann, wird dem Rang und der Wahrheit des Ästhetischen an [71] diesem selbst gerecht. Der Einsatz, den das Ästhetische verlangt, ist freilich, zumindest beim nur Ästhetischen - sofern es solches überhaupt gibt - noch ein ebenfalls nur spielender Einsatz, der vom Ich-Selbst des Mitspielenden also noch abzusehen vermag.

Anders verhält es sich mit personaler Wahrheit. Wo es darum geht, einem Du als Du gerecht zu werden, da versagen die Methoden zwingender Analyse, sichernden Austestens und Berechnens, versagt aber auch die bloß ästhetische Einfühlung und Einschwingung. Die unerzwingliche Freiheit des Ich-Selbst des anderen fordert mein Ich-Selbst, meine Freiheit, d. h. aber: mein Vertrauen und meinen Einsatz, mein Mich-Aussetzen ins Gespräch heraus. Wo ich solches grundsätzlich draußen ließe, da könntest du mir nicht aufgehen.

Wo es aber um die ganze Wahrheit, wo es um die Wahrheit des Ganzen und seines Sinnes geht, da kann das Organ kein anderes mehr sein als die ganze und ausnahmslose Wirklichkeit meiner selbst; nur mit meinem Dasein, nur mit meiner radikalen und nicht nur theoretischen Offenheit, nur mit meiner Bereitschaft bis zum Äußersten kann jene Wahrheit mir aufgehen, die mich selbst in dieses mein Dasein und seinen totalen Charakter hinein gezeitigt hat.


  1. Oeuvres complètes, ed. J. Chevalier (Paris 1954), 1341–1342. ↩︎

  2. F. Rosenzweig, Kleinere Schriften (Berlin 1937), 395–396. ↩︎