Unterscheidungen

Das Zeugnis Jesu – Epiphanie Gottes und „Epiphanie“des Menschen*

Hier ist freilich der kritische Punkt für das Verständnis des Christlichen erreicht. Reduziert man es in einem allgemeinen Sinn auf das Zeugnisschema, so hat man im Christentum in der Tat nichts anderes vor sich als einen der vielen Fälle in der Religionsgeschichte, in denen sich religiöser Vollzug aus dem Kontakt mit dem [78] konstitutiven Zeugnis herleitet: Gründerreligionen, „Gemeinden“ religiös führender Persönlichkeiten. Ein in diesem Sinn „pelagianisches“ oder aufklärerisches Verständnis von Christentum greift freilich gerade heute wieder um sich. Von den ursprünglichen Zeugnissen christlichen Glaubens her läßt es sich allerdings nicht rechtfertigen.

Zeuge und Zeugnis sind zwar auch für das Christliche konstitutiv, sie sind es aber in einem eminenten und spezifischen Sinn. Thesenhaft gesagt: Das Zeugnis Jesu, auf dem Christentum beruht, ist nicht nur Zeugnis von einer Epiphanie, sondern es ist zugleich Epiphanie. Jesus hat nicht nur Kunde gebracht von dem, was er vom Vater gehört und beim Vater gesehen hat. Dasselbe Johannesevangelium, das dieses Motiv immer wieder durchspielt, betont auch das andere. Als Philippus den Herrn bittet: „Zeige uns den Vater!“, antwortet Jesus: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ (Joh 14,8f.). Thomas, der die Wunde des Auferstandenen berührt, ruft aus: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28). Der Zeugnis gibt vom Vater, ist seine Epiphanie. Dies ist bei Johannes zwar thematisch so deutlich reflektiert wie kaum in anderen Schichten des Neuen Testamentes, es liegt aber im Grundduktus des Neuen Testaments im ganzen (vgl. z. B. 2 Kor 4,4–6; Phil 2,9–11; Kol 1,15; Hebr 1,3). Diese epiphanische Bedeutung Jesu läßt sich nicht reproduzieren. Der Glaube an ihn wird durch diese „Verschiebung“, in welcher das Urzeugnis zur Epiphanie wird, seinerseits von dieser Epiphanie beansprucht, Zeugnis zu werden; bloß rezeptiver Glaube ist von daher christlich nicht eigentlich möglich.

Dies ist aber nur die eine Komponente in der fundamentalen Differenz, die der Bedeutung des grundlegenden Zeugnisses Jesu im Christentum eignet. Die andere Komponente, die unerlässlich mit der ersten verwoben ist: das Zeugnis Jesu für den Vater, in letzter Radikalität sein Tod und seine Auferweckung, sind nicht nur Epiphanie Gottes, sondern – wenn diese Sprechweise einen Augenblick lang erlaubt ist – auch Epiphanie des Menschen. Nicht nur Gottes „Geschichte“, Gottes Aufgang zum Menschen hin ereignet sich in Jesus, sondern auch der Zugang des Menschen zu Gott, ja sein Eingang in die Geschichte Gottes. Jesus teilt und vollbringt unsere Ge- [79] schichte, die Geschichte des Menschen selbst, indem er Gott offenbart, indem Gott in ihm aufgeht. Das eine und selbe Ereignis wird so im Neuen Testament zugleich in entgegengesetzter Richtung gedeutet, ohne daß diese Richtungen sich ausschlössen: Indem Jesus sich hingibt an den Vater und für uns, gibt Gott seinen einzigen Sohn für das Leben der Welt dahin; indem sich so aber Gott in Jesus selbst dem Menschen zueignet, eignet Gott sich in ihm auch den Menschen an, nimmt er den Menschen an – Jesus stirbt unseren Tod, in Jesus sind wir zum Leben erweckt. Wenn wir nicht auferstehen, so ist der Logik des ersten Korintherbriefes nach Christus nicht auferstanden (vgl. 1 Kor 15,16); indem Gott seinen Sohn in die Welt sendet, geschieht in der Logik des Galaterbriefes unsere Annahme an Sohnes Statt, ja wird das Pneuma des Sohnes unser Pneuma (vgl. Gal 4,5f.). Christus ist in seinem Tod zur Sünde gemacht und zur Gerechtigkeit gemacht (vgl. 2 Kor 5,21; 1 Kor 1,30). Der Mensch, wie er von sich her vor Gott ist, und der Mensch, wie er von Gott her ist, ist in Jesus gegenwärtig, und diese Gegenwart ist nichts anderes als die Selbsthingabe Gottes an den Menschen.

Um eine zusammenfassende „Kurzformel“ dafür zu geben: Die für das Christentum konstitutive Epiphanie Gottes ist die Erscheinung, will sagen das Ereignis der Liebe Gottes, der Liebe, die Gott ist, in Jesus Christus. Zu diesem Ereignis der Liebe, der radikalen Zuwendung gehört aber ein Doppeltes: Nichts vom Menschen bleibt draußen aus dieser Zuwendung, aber auch nichts von Gott bleibt draußen aus ihr. In der Konsequenz dessen liegt genau die „metaphysisch“ anmutende, aber sich keineswegs in ihrer metaphysischen Begrifflichkeit erschöpfende Formel von Chalkedon, nach der Jesu göttliche und menschliche Natur ungetrennt und unvermischt in der Einheit der Person verbunden sind.1 Hier wird deutlich, wo der grundlegende Unterschied zwischen dem „Mittler Jesus Christus“ und anderen Heilands- und Mittlerfiguren liegt, die entweder allein auf der Seite des Menschen von Gott und über Gott reden und zu Gott hinführen oder aber „Mittelwesen“ sind, die einen Ort „zwischen“ Gott und den Menschen einnehmen, dadurch aber die Insistenz der Transzendenz Gottes in die Immanenz der [80] menschlichen Welt und den Ernst der Ek-stase des Menschen in Gott hinein zugleich verfehlen.

Haben wir mit solcher Reflexion nicht unser Vorhaben verfehlt, am christlichen Vollzug das Unterscheidende des Christentums zur Religion im allgemeinen aufzuzeigen? Keineswegs. Denn der christliche Vollzug ist antwortender Vollzug, der sich nicht von dem subtrahieren läßt, worauf er antwortet, sondern an sich selbst von daher konstituiert ist. Dies um so mehr, als das epiphanische Geschehen in Christus zugleich Wort von Gott und menschliche Antwort an Gott in sich greift. Christlicher Vollzug, dies sollte dargetan werden, ist Unmittelbarkeit zu Gott in der Beziehung zu Jesus Christus und in keiner Weise ohne ihn. Was dies „phänomenologisch“ für den christlichen Vollzug bedeutet, wird am Ende unserer Erwägung noch eigens deutlich werden.


  1. Vgl. DH 302. ↩︎