Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Dasein für die Menschen

Welche Eigenschaft läßt uns im Menschen am ehesten Gottes Bild verstehen? Was ist, so genommen, der „göttlichste“ Wesenszug an ihm? Mir scheint: nicht das Aufsteigenkönnen, sondern das Absteigenkönnen; nicht die Fähigkeit zur Transzendenz, sondern die Fähigkeit zur Deszendenz, zum liebenden Dasein für den anderen. Gewiß ist nicht alles, was edel ist und selbstlos, schon ausgereift, abgewogen und tragfahig. Und doch: wo in einem Menschen etwas da ist wie Helfenwollen, Schenkenwollen, Gutsein, Interesse am anderen, da sprüht jener Funke auf, der etwas vom Licht Gottes in die Welt trägt. Sicher genügt es nicht, um geeignet zu sein für den Priesterberuf, wenn man „dasein will für die Menschen“. Aber alles andere, was an Voraussetzungen da ist, genügt nicht für den Priesterberuf, wenn nicht dieses dabei ist: dasein wollen für den Menschen. Der Priester ist zu den Menschen gesandt. Er hat Anteil an der Sendung Christi. Und diese Sendung des Sohnes in die Welt ist die Sendung zu den Menschen, die das Daseinwollen Gottes für den Menschen und beim Menschen vollendet, verwirklicht bis zur letzten Konsequenz. Apostolos, das ist der zu den Menschen Weggeschickte, den Gott sozusagen von [145] sich weggestoßen hat hin zu den anderen – und so stößt der Apostolos gerade in Gottes eigene Daseinsbewegung hinein. Wenn Gott Liebe ist, agape, also Sichverströmen über sich hinaus, dann ist die Sendung des Sohnes zu den Menschen nicht eine Freundlichkeitsoperation, die er zusätzlich zu und unabhängig von seinem Gottsein unternimmt. Gewiß ist dies freieste Tat, kann sie nicht aus Gottes Sein und Wesen herausgerechnet werden. Aber diese freieste, ganz und gar ungeschuldete und unerrechenbare Tat legt das Innerste Gottes offen, zeigt sein Herz, offenbart ihn bis auf den Grund. Deshalb ist eben das Antlitz dessen, der die Knechtsgestalt annahm, dessen, der dem Vater das. Antlitz des zerschundenen und zertretenen, in Schuld verstrickten und gottverlassenen Menschen darbietet, nicht nur die Ikone der Menschheit, sondern die Ikone Gottes, die unüberbietbare und letztgültige Theophanie in dieser Welt. Jesus macht in seinem Abstieg, in seinem Dasein für die Sünder, die Letzten, in seiner Mahlgemeinschaft mit ihnen, den Vater sichtbar. Wo er die Größe und Heiligkeit des Vaters kündet, da kündet er die grenzenlose Herablassung, den Reichtum des Erbarmens dieses Vaters (vgl. Lk 15 insgesamt; Mt 5,45–47). Die vier Kapitel des Johannesevangeliums, welche, zwischen die Lebens- und die Leidensgeschichte als Gelenk eingefügt, Leben und Leiden, Botschaft und Werk Jesu deuten, enden mit dem Hymnus auf die Communio, dem Hohepriesterlichen Gebet (Joh 17). Sie beginnen mit der Geschichte von der Fußwaschung (Joh 13), dem Hohelied, wir könnten sagen, der Missio, der Liebe als Sendung und Entäußerung. Dies ist die Botschaft dieses Kapitels: Hoheitliche Sendung und demütigende Entäußerung sind dasselbe, und sie beide sind Liebe – Liebe, die bis zum letzten geht; Liebe, die den Vater offenbart und mitteilt; – Liebe, die Jesus für uns bis zum letzten vollbringt und die er uns zugleich als unser Leben und unseren Dienst übergibt und aufträgt. Sich [146] entäußernde Liebe, mit der ich sozusagen „grundlos“ anfange, ist der Weg zur gegenseitigen Liebe, und sie ist der Weg zu jener Einheit, die der Welt das Zeugnis gibt (vgl. Joh 13,34f; 15,12; 17,11b, 21.23). Die Größe Gottes ist die Größe der Liebe, diese aber bemißt sich am Grad ihres Abstiegs, ihrer Entäußerung, am Todesmaß (vgl. Joh 15,13). Jesu Knechtsdienst an uns und unser Knechtsdienst aneinander heben gerade die Knechtschaft auf, vermitteln das neue Wissen, das uns des Herrn teilhaft macht, stiften so die neue Beziehung der Freundschaft (Joh 15,13–15). Leben in der Liebe, leben im Kennen und Tun seiner Liebe, das ist Vollzug der Auserwählung, das ist Vollzug der Sendung, durch die sie in ihre Fruchtbarkeit gelangt (vgl. Joh 15,16f). Es ist in unserem Zusammenhang nicht notwendig, die Entsprechung zu diesen Gedankengängen bei den Synoptikern und bei Paulus aufzuweisen. Es darf als die eindeutige Linie der neutestamentlichen Botschaft gelten: „Inhalt“ und „Methode“der Sendung Jesu und unseres Anteils an ihr ist die Liebe, der dienende Abstieg, die Selbstentäußerung bis zur Todeshingabe. In der Mitte sein, am Standort priesterlichen Dienstes sein, das heißt: sich senden lassen, sich entäußem lassen in Christi Selbstentäußerung hinein. Hinwendung zum Vater ist Hinwendung zur Quelle jener Liebe, die sich verstrahlt und verströmt; Sein in der Communio heißt: Einheit aus jener Liebe fügen, die alles gibt und alles schenkt bis hin zum Tod. Es geht uns im folgenden nicht darum, die Sendung des Priesters ihrem Gehalt und ihrer Gestalt nach theologisch zu ermitteln und zu beschreiben. Es geht uns um jene Seinsart, die der Sendung ins Dasein für die anderen, für alle entspricht. Das neue Testament hat vielerlei Bilder hierfür. Wir wollen einige herausgreifen und ihnen folgen: Sklave, Hirt, [147] Vater, Mutter. Wenn der Standort des Priesters der gekreuzigte und österliche Christus ist, dann sind diese Bilder freilich nichts anderes als dessen Konsequenz und Auslegen.