Caritas – eine theologische Reflexion zwischen Konzil und Synode

Den Menschen verstehen

Was ist der Mensch? Diese Frage drängt in einer Zeit, in welcher der Mensch sich selber plant und über sich selber verfügt wie nie zuvor; denn gerade die Auslieferung des Menschen an den Menschen macht es ihm unsicher, wie er sich selber verstehen soll; der nur auf sich gestellte und angewiesene Mensch entgeht sich.

Die Identität des Menschen mit sich selbst wird nicht gewährleistet durch ein ihm vorgegebenes Wesen, das er in allen Realisierungen, Möglichkeiten, Grenzfällen, Planungen und Krisen bestätigt findet. Das Ich, das die Vielzahl der Erfahrungen, Gedanken und Erlebnisse des Menschen, sein Vorher und Nachher zusammenbindet, splittert sich heute seinerseits auf in eine unabsehbare Vielzahl zusammenhangloser Rollen des Verfügens und Verfügtwerdens. Dies bedeutet für den Menschen äußerste Gefahr. Kann man mit ihm machen, was immer man will, was immer technisch machbar ist? Und umgekehrt: Wo sich mit dem Menschen nichts anfangen läßt, wo er der Planbarkeit seiner Zukunft und seines Glücks entgeht, wo er mißratenes, „verunglücktes“ Leben ohne immanente Chance der Entwicklung ist, kann da vom Menschen noch die Rede sein? Manipulation des Menschen und Manipulation mit dem Menschen bedrohen den, der durch keine Definition und keine Maßnahme in seiner eigenen Identität gewährleistet werden kann.

Gerade hier eröffnet Liebe als Gleichzeitigkeit Gottes mit dem Menschen ihm ein neues Verstehen, eine neue Konsistenz seiner Menschlichkeit, eine neue Gleichzeitigkeit mit sich selbst. Nicht durch das, was ich am Menschen feststellen, nicht durch das, was ich mit dem Menschen machen oder nicht machen kann, sondern dadurch, daß es einen gibt, der ja zu ihm sagt, der ihn von sich her als Du, als Partner annimmt, wird der Mensch „definiert“. Er ist der von Gott auf Antwort hin Geliebte; und wo – etwa in äußerster Form des Schwachsinns – diese Antwort nicht seitens des einzelnen Menschen zur Sprache kommen kann, da sind die anderen, die Mitmenschen, zu dieser Antwort gerufen.

[135] Die Identität des Menschen durch Gottes liebende Gleichzeitigkeit mit ihm enthält so drei fundamentale Erkenntnisse über das, was der Mensch ist: 1. Der Mensch ist von sich her das Wesen, das geliebt, das bejaht, das als Du und Partner angenommen sein will. 2. Gerade dadurch aber ist der Mensch er selbst, ein unverrechenbares Einmal, als je dieser einzelne Endstation unendlicher Liebe Gottes, als je dieser einzelne aber auch Endstation für die Entwicklung, die der Mensch selber vorantreiben kann und soll. Sie darf nie an diesem einzelnen vorbei und über ihn hinweg führen, so daß er nur Probierstation, Abfall auf dem Weg der Evolution, kalkulierbares Menschenmaterial würde. 3. Als geliebt und darum Einmal für Gott, für sich und für alle, als Partner zum Einmal Gottes ist der Mensch aber zugleich über sich hinaus verwiesen; sein Sein ist Mitsein, ist Gleichzeitigkeit, will sagen Dasein für andere. Der einzelne ist nicht nur Endstation, sondern auch Ursprung, Anfang, Quelle, die von sich her aufbricht zu den anderen und für die anderen, damit sie daraus leben, als Geliebte sie selbst sein können. – Solches wären Grundzüge einer Anthropologie, die die Liebe Gottes zu ihrem hermeneutischen Prinzip hat.