Das Haus des barmherzigen Vaters

Den Vater finden – den Weg finden

Der Verlorene Sohn macht sich auf zum Vater, und der Vater kommt ihm entgegen. Weg der Liebe zurück, Weg der Liebe hinaus. Ja, im Gleichnis vom Verlorenen Sohn ist gleich von sechs Wegen die Rede, oder genauer, von fünfen und von einem sechsten, der noch aussteht. Lassen wir uns auf diese verschiedenen Wege ein!

Zwei Wege sind Wege fort, Wege hinweg, Wege in die Trennung, Wege ins Dunkel. Der jüngere Sohn, der sich aufmacht, der selber leben will, der aufbricht zu seinem Ich. Der ältere Sohn, der hinausgeht, der nicht hereinkommen will, der in Distanz bleibt, als der Bruder zurückkehrt. Auch ein Weg zum Ich. Zwei Wege fort.

Und dann zweimal ein Weg zurück. Der Weg des jüngeren Sohnes, der getroffen ist vom Vater, der in ihm lebendig bleibt, angezogen von sich, im Vater, der ihn in sich behalten hat: Ich will mich aufmachen, ich will zu meinem Vater gehen. Und jener noch zu gehende Weg, von dem nichts erzählt wird und auf den die Geschichte [82] doch abzielt, der Weg jener Gerechten, denen das Evangelium verkündet wird: Kommt doch auch ihr herein, nehmt doch auch ihr teil, ihr älteren Söhne, am Mahl, das ich halten will, um die Sünder, die Fernen und die Fremden aufzunehmen, weil sie Brüder sind, eure Brüder und Gottes verlorene Söhne.

Und zweimal eben der Weg des Vaters, der Weg dem Sohn entgegen. Der Weg dessen, der sich aufmacht, um den Verlorenen heimzuholen, und der Weg dessen, der zum Älteren hinausgeht und verhandelt und wirbt und einlädt und verständlich macht und deutlich macht und sagt: Komm doch, du kannst doch nicht anders, du mußt dich doch mitfreuen, es ist doch auch dein Fleisch und Blut. Es ist doch dein Bruder. Und er war tot und er lebt.

Dreimal zwei Wege: Wege fort, Wege zurück, Wege des Vaters uns entgegen.

Die Wege fort sind Wege, die wir gut kennen. Andauernd sind wir auf solchen Wegen. Und manchmal merken wir es nicht. Da gibt es zum einen die Wege des Protestes, die Wege, die einfach kontra sind. Wege aus einem Gegen ohne ein Für. Ohne ein anderes Für als mein Ich. Alle die Wege, die wir nur deswegen gehen, weil wir gegen etwas sind und nicht weil wir für etwas [83] sind, alle diese Wege gehen in die Irre. Alle Wege, die nur für mich sind, sind gegen andere und anderes, gegen das, was mich allein wahrhaft ich sein ließe. Und jeder Weg, der so im Gegen bleibt, ist im Grunde kein Weg, er endet im Aus.

Aber nicht nur dieser offene Protest und nicht nur dieses Gegen sind in vielen unserer Wege drinnen, sondern oft auch, viel leiser zwar, etwas anderes. Etwas, das mich überfallen hat in einem der bewegendsten, dunkelsten und doch vielleicht auch schönsten Bücher, die in diesem Jahrhundert geschrieben wurden: „Winter in Wien“ von Reinhold Schneider. Da kommt immer wieder ein Wort vor, in dem der Dichter sich selber erfährt, sich selber und seine Zeit beweint, ein Wort, das er, indem er es findet, aufhebt in die leisen Zeichen doch einer verborgenen Heimkehr, es ist das Wort: „gleiten“ . Gleiten wir nicht hinweg? Gleitet nicht uns im Gehen der Boden weg? Wir gehen weiter, wir glauben, auf einem Weg zu sein, wir sind nett und freundlich zu unserem Nächsten, wir probieren, gut zu ihm zu sein, wir probieren sogar, gut zu Gott zu sein und religiös zu sein, Christen zu sein – und wir gleiten. Es geht zurück, es geht weg, und, indem wir vorwärts gehen, sind wir auf dem Weggang und Rückzug. Wir können es oft nicht verstehen und [84] erklären, aber irgendwo gleiten wir. Wir sind nicht in großem Protest, aber in einer leisen Müdigkeit und Resignation. Ein unmerklicher Sand mischt sich zwischen unser Ja und den Gott und den Menschen, zu denen wir Ja sagen. Diesen Sand dazwischen, dieses, was uns dämpft, dieses Weggleiten von dem, worauf wir zugehen, im Weitergehen – nehmen wir es ernst, achten wir darauf. Das ist unser Weg hinweg. Nicht nur der laute Protest, sondern auch und noch mehr das heimliche Gleiten.

Und dann vielleicht noch einmal anders, dieser Weg hinweg. Vielleicht sind wir sogar für etwas, haben wir ein Ideal, setzen wir uns für etwas ein. Aber dieses Für macht uns eng, macht uns borniert, macht uns fanatisch. Und weil wir für dieses Für sind, kommen wir mit soundsoviel anderen Dingen nicht mehr zurecht und sind gegen den und gegen jenen, und weil wir uns dafür einsetzen und die anderen verstehen es nicht, sind wir griesgrämig und mißmutig und mögen wir nicht mehr und können wir nicht mehr und sagen: Es ist mit dieser Gesellschaft und mit dieser Kirche und mit unserem Nächsten und mit unserer Ehe und mit unserem Beruf nichts. Und indem wir scheinbar für etwas sind, staut sich immer mehr Gegen an, es fehlt uns jene Weite, jene [85] Offenheit, jenes Herz des Vaters, das auch beim Verlorenen Sohn in der Ferne ist, ihn sieht, ihn in sich hat, auf ihn wartet, und beim älteren, der schmollt, und das um ihn wirbt, ihn einlädt. Alles Für, was uns eng macht, ist ein Gegen.

Oder noch einmal anders, noch einmal ein Weg ins Abseits und Aus. Wir sind für etwas, wir sind sogar für sehr viel, wir interessieren uns umfassend, wir sind angezogen von dem und jenem, wir wollen für alles Mögliche, für alle Ideale sein, aber ohne Verbindlichkeiten. Wir sind für alles Schöne und Edle und Gute. Aber wir binden uns nicht. Wir selbst sind nicht mit drinnen in diesem Für, wir investieren nicht unser Herz und unser Blut, und so kommen wir dann doch in jenes Gleiten oder gar in jenes Gegen.

Wege zum Ich. Wege des Gegen, Wege der Resignation, Wege des leisen Ausrinnens und Gleitens, Wege des fanatischen Für, das so vieles Gegen hat, Wege der Unverbindlichkeit: Wege des Verlorenen Sohnes. Und dann Wege der Selbstgerechtigkeit hinaus, die sich nicht vertragen mit den anderen, die nicht gut sein können zu den anderen, die die Enge des älteren Sohnes haben – (selbst wenn sie gegen diesen älteren Sohn und seine Enge zu sein meinen), Wege ins Aus.

Wie aber, wenn wir da herauskommen wollen, [86] wo gibt es Wege zurück? Wie kehrt man um? Wie kehrt man heim? Wie findet man den Weg: Ich will zu meinem Vater gehen?

Jeder, der einen Weg gehen will, braucht ein Wohin. Und erst wenn er das Wohin findet, das ihn fasziniert und begeistert, erst dann kann er eigentlich gehen.

Ich darf eine beinahe lächerlich harmlose Geschichte erzählen. Sie fällt mir immer wieder ein, wenn ich an große Lebensentscheidungen denke.

Ich habe eine solche Lebensentscheidung, ohne es zu ahnen, sehr früh getroffen, mit anderthalb Jahren, als ich gehen lernte. Ich habe früh zu sprechen begonnen, aber beim Gehen, da habe ich mich immer an Mutters Hand festgemacht, und sie war schon ein wenig besorgt – wie sie mir später erzählte –, daß ich mich denn gar nicht von ihrer Hand lösen wollte. Doch da sind wir einmal spazierengegangen auf dem Alten Friedhof in Freiburg, und plötzlich sah ich einen wunderschönen kleinen Vogel, drei Meter von mir entfernt, und ich sagte: Du lieber Vogel, wollte ihn streicheln – und von dem Augenblick an konnte ich selber gehen.

Für etwas sein, von etwas sich anziehen lassen, durch etwas Geliebtes sich losmachen lassen von sich selber: durch das Evangelium, durch die Güte [87] des Vaters, durch die vielen wunderbaren kleinen Dinge, die wir erleben, und darin durch den großen Ruf, der auch uns trifft. Keiner ist da, keiner, der dies liest, der nicht einen Ruf hätte. Und jeder Ruf ist groß. Denn jeder Ruf ruft mitten hinein ins Herz Gottes, auf einen Weg, auf dem die ganze Welt und unser ganzes Leben sind wie an einer Perlenschnur. Wir haben einen Weg, denn wir haben ein Wohin. Der Vater ruft uns, er will uns, er mag uns. Wenn wir das Wohin entdecken, wenn wir uns dem Wohin lassen, dann können wir gehen.

Lassen wir uns! Lassen wir uns begeistern. Lassen wir uns mitnehmen, lassen wir uns anstecken. Suchen wir nicht immer, was noch dagegen spricht, sondern wagen wir, wenn etwas dafür spricht. Lassen wir unser Herz seinem Ruf und seiner Stimme. Sagen wir: für dich. Dann können wir gehen, dann können wir heimkehren.

So geht das. Aber wenn wir uns auf den Weg machen, wenn wir „für“ sagen, dann gehört eben auch noch ein anderes hinzu. Eben doch auch ein Gegen: wir müssen uns lösen. So wichtig und wichtiger als alles andere es ist, daß jeder einzelne, jeder von uns seinen Ruf und sein Für hat, jeder von uns hat zugleich etwas, von dem er sich lösen, was er verlassen muß. Irgendeine Vorliebe, [88] irgendeine Lieblingsidee, die ich nicht „verkaufen“ mag, irgendeine Eigenart, die ich nicht aufgeben mag, irgend etwas: ein Urteil oder auch nur das Hätscheln einer Schwäche oder eines Fehlers, irgendein verquertes Verhältnis, das ich nicht weggeben und lösen lassen mag, irgend etwas. Suchen wir es. Suchen wir unser Kreuz. Suchen wir jenes Kreuz, das quer auf dem Weg liegt, auf dem Weg zu unserem herrlichen Ziel; nur durch dieses Kreuz hindurch finden wir das Ziel. Das Kreuz ist der Weg.

Jeder Weg zurück, jeder Weg vorwärts, jeder Weg zum Vater hat seinen Ruf und sein Kreuz.

Ja, das mag schon sein, aber wann sollen wir den Weg gehen? Morgen oder nachher? Nein, jetzt! Immer jetzt. Wenn ich einem in dieser Stunde diese frohe Botschaft sagen darf, dann ist diese Stunde seine Stunde. Gott bricht auf. Er ruft jetzt. Und jetzt will er, daß wir unser Herz losketten und ihm hingeben: für dich. Immer jetzt.

Ach, ich hab's doch schon so lange versucht, und es geht nicht. Jetzt neu! Ich habe doch immer wieder Anläufe genommen und bin immer wieder ausgeglitten und zurückgefallen und immer wieder nur im Kreis marschiert. Jetzt, das heißt: immer wieder! Und ich trage doch schon so lange an dieser Last, und sie ist doch schon so schwer, [89] und ich kann bald nicht mehr. Jetzt! Im Jetzt die ganze Treue, im Jetzt das Nocheinmal, im Jetzt das Zumerstenmal, im Jetzt das Ganz, im Jetzt das Jetzt.

Aber kann ich das, werde ich das auch morgen können? Ich habe einmal eine furchtbare Angst in meinem Leben gehabt, daß ich nicht mehr weiter kann. Und dann ist es mir wie eine starke Stimme gekommen: Hab' keine Angst um übermorgen, sondern glaub' daran, daß du soviel Licht bekommst, wie du brauchst, immer für den nächsten Schritt, je jetzt! Nicht ich kann gehen, er kann gehen in mir und mit mir. Ich habe nur dieses Jetzt, und alles andere ist in seiner Hand. Ich habe keine Sicherheit, wer ich morgen bin. Ich habe keine Sicherheit, ob ich und wo ich ankomme. Aber ich habe die Sicherheit, daß Er bei mir, bei uns ist – jetzt und den je nächsten Schritt. So geht Gehen, so geht der Weg. Das ist die Zeit des Weges: das Jetzt. Das Jetzt, das die Treue hält, das Jetzt, das je jetzt neu anfängt, das Jetzt, das jetzt noch einmal probiert, das Jetzt, das jetzt darauf vertraut, daß morgen und übermorgen Er dasein wird, der jetzt mich ruft und der jetzt mich einlädt und der jetzt mit mir gehen will. So geht der Weg zurück.

Und sein Weg, auf dem er uns entgegen-[90]kommt? Da muß ich über das Gleichnis vom Verlorenen Sohn hinaus. Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn steht nicht am Ende des Lebens Jesu, sondern steht in der Mitte. In jener Mitte, die sich dann in dieses Ende hinein zuspitzt, von dem an erst mein Weg anhebt. Ich habe gesagt: Mein Weg ist das Kreuz. Aber nicht mein Kreuz, sondern sein Kreuz, Jesu Kreuz. Und mein Kreuz ist drinnen in seinem. Und weil sein Kreuz mein Weg ist, deswegen ist alles gut. Deswegen ist er mir ganz entgegengekommen, und deswegen kann ich wirklich gehen. Er kommt mir entgegen. Der Vater kommt mir entgegen bis zu mir. Denn mich hat sein einziger und geliebter Sohn so in sich hineingetrunken, so in sich hineingenommen, so in sich hineingestaltet, daß alles das, was und wie und wo ich bin, drinnen ist. Er steht mir im Rücken, er hat mich schon überholt auf meinen Abwegen, er ist schon weiter weg vom Vater als ich. Ich kann gar nicht so weit vom Vater weg geraten wie er, der geschrien hat: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Er steht hinter mir und unter mir – und ich in ihm drinnen. Ich kann nicht tiefer fallen als bis in jene Barmherzigkeit, in der mich der Vater abholt, indem er seinen eigenen Sohn hineingegeben hat in die tiefste Tiefe, in die ich je geraten kann. Und des-[91]wegen kann ich mit ihm gehen. Und deswegen ist sein Weg zu mir, dieser liebende Weg, mein Weg mit ihm. Ich darf mit Jesus diesen Rückweg wagen zum Vater. Er steht bei mir. Ich darf mich in ihn hineinfallen lassen. So wie die kleine Therese, die sehr viel von diesen Dingen versteht, gesagt hat: Ich selber kann nicht fliegen in die Sonne, ich bin nur ein kleiner Spatz. Aber es gibt den Adler, Christus, auf dessen Rücken ich mich setzen kann, und auf seinem Rücken fliege ich in die Sonne. So geht Gehen mit ihm. So ist sein Entgegenkommen: er nimmt mich an und auf, und ich gehe mit ihm. Und ich kann Tuchfühlung mit ihm haben, er ist jeden Augenblick da.

Ja, das fühle ich oft nicht. Aber er ist da. Es gibt sein Wort. Er sagt uns, was er denkt. Er sagt uns, was er will, er sagt uns, wie er lebt – sein Wort. Ich kann auf sein Wort hören, jetzt, in diesem Augenblick. Ich kann sein Wort leben, wenn ich möchte, jeden Tag. Und so habe ich Tuchfühlung. So habe ich Kontakt. Und er hat seinen Leib, und ich darf seinen Leib empfangen jeden Tag. Sein Wort und sein Leib. Und ich habe Brüder und Schwestern, und wenn ich mit ihnen gehen will, dann ist er in der Mitte. Er in unserer Mitte. Er kommt uns entgegen bis zu uns, und so ist in unseren Worten sein Wort, in unserem Leib [92] sein Leib, in unserer Gemeinschaft Gemeinschaft mit ihm. So kann ich in seinem Entgegenkommen zu ihm gehen.

Aber ein ernstes, letztes Wort ist da doch fällig. Denn es ist nicht so, daß das Entgegenkommen Gottes mir das Gehen bis zur ganzen Heimkehr abnimmt. Es ist nicht so, daß Gott mir nur seinen Service anbietet, nein, er nimmt mich ernst. Er will mich als einen haben, der selber so ist wie er, und weil ich so bin, muß ich zum Vater gehen. Mit ihm und in ihm, sicher. Aber gehen und zum Vater gehen. Und deswegen muß ich die Differenz zwischen mir und ihm verringern, ich darf nicht den Umstand, daß ich aus mir nicht den Willen Gottes halten kann und ihn nicht halten mag, heilig sprechen. Ich muß in dieser Unruhe bleiben, ich muß in diesem Unterwegssein bleiben, ich muß meine Ferne mit ihm aufarbeiten, bis ich heimgekehrt bin zum Vater. Das ist nicht Unbarmherzigkeit, sondern Respekt vor meiner Würde: Ich bin so. Jesus kommt zu mir, und ich gehe mit ihm und in ihm zum Vater. Den ganzen Weg gehen zu ihm. Bis in sein Herz, bis in seine Mitte, denn nur in seinem Herzen und nur in seiner Mitte bin ich frei.

[93] Nun geht diese Zeit der Besinnung miteinander zu Ende – oder sie fängt neu an. Denn jetzt fängt der Weg an. Hören wir auf seinen Ruf. Auf je meinen Ruf, den Ruf für mich. Keiner soll weggehen, ohne nach seinem Ruf zu fragen. Und keiner soll weggehen, ohne sein Kreuz anzunehmen und zu umarmen, es ist der Weg. Und keiner soll weggehen ohne den Trost: ich gehe mit dir, Jesus, in dir, in deinem Wort zum Vater. Sagen wir ja: Mein Ruf, mein Kreuz, mein Wort. Dazu uns allen seinen Segen.