Das Haus des barmherzigen Vaters

Den Vater finden – sich selber finden

Mein Freund mußte im nachhinein selber über sich lächeln, als er diese merkwürdige Geschichte seiner Armseligkeit erzählte: Er hatte sich einfach geärgert und wußte, eigentlich hatte er keinen Grund dazu. Sein Mitarbeiter und Freund hatte richtig gehandelt, aber es war zu einem Mißverständnis gekommen, und nun war in ihm dieses andere stärker: Wenn die heute abend ihren großen Auftritt haben, dann sollen sie einmal sehen, wie das auch ohne mich geht. Und er redete sich ein, daß er nur deswegen weglaufe, weil er sie vor seinem Ärger verschonen wolle. Er setzte sich in den Bus, fuhr durch die südliche Nacht hundert Kilometer, kam in der Großstadt an und irrte durch die Straßen. In der Nacht vor Ostern. Allein in der fremden Stadt – da überkam ihn sein Ich. Dieses Ich, das sich an sich reißt, das rebelliert, das sich vor sich selber rechtfertigt, dieses Ich, das klopft und drängt, das normalerweise in den Programmen und Zwängen des Alltags überspielt ist und das, wenn es nun einmal sich selber [45] erfährt, einen doch zittern läßt. Dieses Ich ohne Boden, ohne Grund. Dieses Ich: kostbar, faszinierend und zugleich wie ein Strudel, in den man hineingeraten kann, wie ein Rätsel, das man nicht mehr versteht, wie eine Maschine, die selbsttätig arbeitet, wie ein Fragezeichen, das auf sich selber keine Antwort gibt. Es hat einen ganzen Tag gedauert, bis das Du dieses Ich meines Freundes wieder eingeholt hatte und er heimkehrte und alles wieder gut war.

So dramatisch und so augenscheinlich ist es bei uns wohl meistens nicht, aber spüren nicht auch wir dieses Ich? Manchmal ganz versteckt, beiläufig – aber ist es einfach da. Wenn man einmal nach dem Streß und der Anstrengung der Monate voller Arbeit Urlaub hat und man ist dann plötzlich in Ruhe, man kann dahin gehen oder dorthin gehen – wie wohl tut diese Freiheit einerseits, und andererseits ist diese Situation auf eine fast lächerliche Weise unheimlich. Wer bin darin ich? Ich zittere.

Oder auch ganz anders: Wir sind einsam. Wir haben viel Zeit für uns allein, viele Stunden, in denen keiner zu uns kommt, viele Möglichkeiten nachzudenken. Und dann ist es wie eine Uhr, die andauernd schlägt, dieses Ich, Ich, Ich. Wir kommen nicht damit zu Rande, wir verstehen es nicht [46] mehr, es ist wie ein Hunger, für den es keine Speise, kein Brot gibt, wie ein Durst, der kein Wasser findet. Dieses Ich eine Überlast, dieses Ich fremd und schwer, dieses Ich eine beständige Bitte und zugleich zu stolz, diese Bitte auszusprechen.

Oder dieses Ich andauernd gestoßen und gedrängt und geplagt, von Signalen gehetzt, von Kommandos geduckt. Und wenn ich heimkomme aus diesem Betrieb mit seinen entfremdenden Zwängen, dann komme ich doch nicht zu mir. Wiederum wird nur aus mir herausgepreßt und gefordert, und ich kann gar nicht mehr ich sagen und würde es so gerne. Und heimlich geht wie ein Schatten dieses unerfüllte Ich doch immer mit mir.

Nun, auch der jüngere Sohn hat sich gedacht: Es ist mein gutes Recht. Ich bin schließlich ich. Ich bin nicht nur irgendeiner im Familienbetrieb. Soundsoviel steht mir zu, und dann endlich einmal ich sein. Es gehört doch dazu, einmal seine Freiheit zu erfahren, man muß einmal probieren, auf eigenen Füßen zu stehen, man muß einmal die Welt aus einer anderen Perspektive anschauen. Und wer würde sagen, daß dies alles einfachhin falsch ist? Aber dann ging er in die Welt – und war mit diesem Ich allein. Mit diesem Ich, [47] das es sich leisten konnte, Ich zu sein. Er war ja reich, hatte das halbe Vermögen seines reichen Vaters, und er fühlte sich bodenlos frei: „Eritis sicut dei“. „Ihr werdet sein wie die Götter“.

Einmal ausgeben können, genießen können. Einmal etwas gelten und anerkannt sein, weil man anderen etwas zahlen, weil man andere einladen kann. Viele Kontakte aufnehmen, die nicht vorgenormt sind durch die Familie. Dies tun können und jenes – wunderbar! So fing es an mit diesem jüngeren Sohn, als er endlich einmal sein Ich ergriff. Und dann geschah seinem Ich das Unvermeidliche: Er kam in die Konkurrenz. Er mußte sich durchsetzen. Er mußte bestehen darauf: Ich will das. Und in diesem Wettstreit, in der Selbstbehauptung zwischen Angriff und Verteidigung, zwischen Erfolg und Niederlage, zwischen Übertrumpfen und Beschämtwerden, wurde das Ich ihm zur Last und zum Zwang: ich sein, immer nur ich sein.

Wie oft ergeht es uns so: es ist, als ob wir nur die eine Aufgabe hätten, ein bißchen zum Zuge zu kommen, ein bißchen Geltung und Erfolg zu haben, uns durchsetzen, uns auszuspielen gegen den anderen.

Was immer wir tun oder lassen oder erfahren: Wir denken unablässig an uns und sagen, ich bin [48] schließlich auch wer. Unser Ich hängt uns wie eine umgeknickte Wimper im Sehfeld unseres Auges. Wir kümmern uns um uns und drehen uns um uns und werden dabei die gehetzten Manager unseres eigenen Ich.

Aber der Vorrat des Verlorenen Sohnes, sein Reichtum, wurde weniger. Was er hatte, was er konnte, was ihm zustand, was sein war – herausgenommen freilich aus der Gemeinschaft mit dem Vater –, es verbrauchte sich. Es regenerierte sich nicht, es wuchs nicht nach. Und so ist es immer: Wo das Ich des Menschen sich an sich nimmt, wo es auf seinen Rechten, seinem Können, seinem Besitz, seinem Genuß besteht, da werden die Vorräte geringer. Indem wir anfangen, von unserer eigenen Kraft, von unserem eigenen Mögen und Vermögen zu leben, da wird es Tag um Tag weniger. Wenigstens die Lebenskraft wird weniger, wenigstens der Spielraum der Freiheit, dies und jenes tun zu können, wird weniger. Wir verbrauchen andauernd für unser Ich, was wir haben. Und eine heimliche Angst setzt bald ein. Zunächst überspielt man sie, indem man sich damit tröstet, auch noch jung zu sein, auch noch zu gelten, auch noch Erfolg zu haben. Aber es wird immer mühsamer, die Basis dieses Ich wird immer schmaler. Eine Zeitlang können wir uns [49] vielleicht darüber hinwegtäuschen, aber im Grunde fängt heimlich die Misere an, sobald ich mein Ich auf sein Haben, sein Gelten und seinen Besitz setze.

Und dann schließlich zerbrachen die Freundschaften dessen, der einmal reich war und nun nicht mehr einladen konnte. Zunächst wurde er noch eingeladen; doch das Mitleid, mit dem man für ihn zahlte, tat ihm weh. Und dann war keiner mehr da, der ihn einlud und mitnahm. Er war ein Bettler und hatte nichts mehr, er mußte schauen, wie er sich verdingte und wie er mit dem Ärgsten und Ärmsten seinen Hunger stillte. Er war unterwegs zum Ich, aufgebrochen zum Ich. Und dann zerbrach dieses Ich in lauter Brosamen, in lauter Fragmente, und nun wußte er nicht mehr, wer er war.

Nicht mehr wissen, wer wir sind. Sich so fremd werden, daß man sich nicht mehr kennt. In den Spiegel schauen und sagen: Wer ist denn das? In den Spiegel schauen und Angst bekommen vor diesen Augen. Es geht weiter, aber ich komme nicht mehr mit, ich bin nicht mehr drinnen in den Worten, die ich sage, ich bin nicht mehr drinnen in den Taten, die ich tue, ich bin nur noch meine Schablone, nur noch meine Maske, ich laufe nur noch so ab.

[50] Wer bin ich? Das war der entscheidende Punkt. Und es hätte an diesem Punkt mit dem Verlorenen Sohn auch anders weitergehen können. In den Selbsthaß, in die Selbstzerstörung, in die Verzweiflung, ins Dumpf werden, in jene Resignation hinein, die einfach ausrinnt. Aber in seinem äußersten Hunger hat er noch etwas anderes entdeckt: seine Würde. Er hat die Würde entdeckt, daß er einen Vater hat und Sohn eines Vaters ist. Er hat es ertragen, sich einzugestehen: Ich habe diese Würde verraten. Und gerade indem er dies ertrug, hat er seine Würde ergriffen. Wer damit rechnet, schuldig zu sein, wer den Mut hat, es einzugestehen, wer bereit ist, sich in Frage zu stellen, sich als Schuldigen auszuliefern, der findet seine Würde. Die Demut und der Adel gehen Hand in Hand.

Ihr werdet sein wie Götter – das war der erste Akt. Nackt sein, bloßgestellt sein, sich verstecken wollen vor sich selber – das war der zweite Akt. Und nun erreicht ihn, diesen jüngeren Sohn, die Frage, die ihn findet: Adam, wo bist du? In dieser Stunde sagt er: Ich will zu meinem Vater gehen. Es ist einer der schönsten Sätze, die ein Mensch sagen kann, einer der größten Sätze, deren das menschliche Herz fähig ist.

Ich will zu meinem Vater gehen. Darauf, daß [51] wir diesen Satz finden, kommt alles an. Wo immer wir sind, diesen Satz finden. Umkehren, zum Vater gehen. Er kennt uns. Er hat uns keinen Augenblick lang vergessen. Er hat immer zu uns hergeschaut. Er hat sich uns nicht aufgedrängt. Er hat uns sogar gehen lassen. Vielleicht fragen wir ihn manchmal: Warum hast du uns gehen lassen, warum hast du uns nicht festgehalten, warum hast du nicht deine Macht ausgenützt, damit wir dir nicht davonlaufen ins Unglück? Aber er weiß, daß wir Söhne sind, er weiß, daß wir Kinder und Erben sind, daß wir sind wie er und daß wir nur dann, wenn er uns freiläßt und wenn wir frei sind, wahrhaft geborgen sein können bei ihm und wahrhaft Söhne sein können. Er möchte nicht Knechte, die nur funktionieren, er möchte nicht Gegängelte, nicht Wesen, die nie zu sich selber kommen. Er möchte uns ganz freilassen, ganz freigeben an uns selber, weil er selber frei ist, weil er selber der Vater ist, weil er uns nach seinem Bild erschaffen hat, weil wir seine Söhne sind. Er zieht es vor, daß wir ihm davonlaufen können, aber daß er in uns sein Bild, seinen Sohn entdecken kann und wir bereit sind, ihn als unseren Vater wieder zu entdecken.

Unser Papst hat seine zweite Enzyklika geschrieben über das göttliche Erbarmen. Er spricht [52] vom Verlorenen Sohn und sagt, daß in seiner Geschichte die Geschichte der Menschheit erzählt sei. Er zeigt uns, was göttliches Erbarmen ist, und er zeigt uns, wer der Mensch ist. Göttliches Erbarmen besteht darin, daß der Vater in allen Menschen seinen Sohn sieht und erkennt. Erbarmen ist keine Demütigung, die uns erniedrigt, sondern ist etwas, was uns erhebt. Der Vater erkennt und liebt in alle Ewigkeit seinen Sohn. Nach seinem Bild sind wir geschaffen, ihn hat er uns eingeprägt. Das ist unsere Berufung und unser Zeichen, sein Zeichen in uns, das wir nie verlieren können. Wir bleiben gekennzeichnet von ihm, das ist unsere Würde und, so sagt der Papst, in allem Hunger hungern wir zuletzt und zutiefst nach dieser unserer Würde, Sohn zu sein.

Wo immer wir sind, unseren Hunger, unsere Würde entdecken und dann umkehren und zum Vater gehen: darauf kommt es an. Aber im Entdecken dieser Würde auch die Demut zum Umkehren aufbringen, das fällt schwer. So ein paar Sünden sagen, ja, das hat man früher selbstverständlich getan. Schade, daß wir's heute nicht mehr tun. Aber wir müssen vielleicht etwas Neues hinzulernen. Und vielleicht war es insofern gut, daß wir einmal durch eine Krise auch des Bußsakramentes hindurchgegangen sind. [53] Nicht, weil es nicht mehr aktuell wäre, sondern weil es ganz neu aktuell wird. Es gab – und gibt teilweise noch – eine Ideologie des Ich, das um seiner Selbstfindung willen einmal Begriffe wie Schuld, Sünde und Vergebung beiseite lassen müsse. Fehlverhalten zu erklären und aufzuarbeiten, das genüge.

Und was ist geschehen? Viele Menschen sind dabei eher unglücklicher, unfreier, verängstigter geworden. Wir werden immer einsamer, immer Ich-schwächer, kreisen nur noch um uns selber, wenn wir nicht mehr den Mut haben zu sagen: Vater, ich habe gesündigt vor dem Himmel und vor dir. Ich habe sogar mich selber verfehlt mit meinem Ichsagen. Ich habe Ich für mich allein gesagt. Und ich möchte dieses innere, eigensinnige Ichsagen wieder wegschenken an Dich und möchte wieder Du sagen in meinem Ich. Darauf kommt es an.

Ich will zu meinem Vater gehen, und ich will ihm sagen: Ich habe gesündigt. Und dabei dürfen, ja müssen wir auch ein Wort neu lernen, das wir aus unserer Religion herausgestrichen haben und das wir nicht herausstreichen können: jenes anstößig klingende Wort von der Gottesfurcht, von der Furcht Gottes. Er hat uns gesagt – wir wissen es durch Jesus –, daß er uns unendlich liebt und [54] daß er uns offene Arme entgegenstreckt. Wir sehnen uns nach dieser seiner Liebe. Aber sind wir wirklich offen für sie? Wir bringen uns mit in unserer ganzen, oft uns selbst verborgenen Wirklichkeit – so wie wir sind. Wir werden offenbar vor ihm. Wir, die wir von ihm geschaffen sind, wir, die wir keinen einzigen Gedanken, keine Regung unseres Gefühles haben könnten ohne ihn, wir, die keinen einzigen Atemzug tun könnten ohne ihn, wir, die so viele Schritte gingen ohne ihn – spüren wir nicht die Kluft, das Mißverhältnis? Sein Erbarmen ist keine Selbstverständlichkeit, die wir berechnen können, sondern je überraschendes Geschenk, das wir vertrauend erhoffen. Man hört immer wieder sagen: Das ist des Menschen unwürdig, Furcht darf nicht sein – mit diesem Gott lebe ich nicht.

Was ist geworden? Die Welt ist voller Ängste, seit wir die Gottesfurcht vertrieben haben. Hundert und tausend Ängste vor uns und jedermann, vor der Welt und der Zukunft machen uns krank. Frei werden von sich kann nur der, der die Furcht Gottes hat. Diese Furcht ist nicht Angst, die mich zurückbeugt auf mich selber, sondern Annehmen meiner Kreatürlichkeit, Annehmen meiner Abhängigkeit von Gott, Annehmen, daß [55] er groß ist und ich klein bin. Und wenn ich so zu ihm gehe, gerade dann wird jene vollkommene Liebe wachsen, die die Furcht vertreibt und erlöst (vgl. 1 Joh 4,18).

Ja, wie sieht es von ihm her aus? Der Vater hat mich freigegeben und freigelassen an mich. Aber er hat jeden Augenblick auf mich geschaut. Und er hat mich immer erwartet. Ich konnte und kann keinen Schritt tun ohne ihn. Und auch mein Aufbegehren und mein Fremdsein und Fernsein und Nichtverstehen und Rebellieren und Weglaufen und Mich-nicht-mehr-Kümmern sind vor seinem Angesicht. Es ist kein Haar von meinem Haupt gefallen, ohne daß der Vater es weiß. Er hat mir immer in mein Herz geschaut. Er hat nie gesagt, jetzt ist Schluß, sondern er hat gewartet auf mich. Er hat mir Zeit gegeben, mich gehen zu lassen, damit ich komme, damit in mir dieser sein leiser Blick, der mir eingezeichnet ist, das Wort vom Herzen und von den Lippen hebt: Ich will zu meinem Vater gehen. Und nun sage ich es ihm, und er kommt mir entgegen, und er sagt kein Wort des Vorwurfs. Er holt sein bestes Gewand, er macht für mich ein Fest. Ich bin da. Und er ist da, und wir gehören neu zusammen. Versöhnung. So ist er. Wie die Sonne, die einfach strahlt. Liebe, die nichts anderes tut als lieben. [56] Liebe, die mich umfängt, Barmherzigkeit, die mich erhebt. Der Vater findet den Sohn, und der Vater weiß sich beschenkt davon, er, der nichts braucht, wenn ich zurückkehre. Denn es ist ihm ein Geschenk, wenn in einem Menschen mehr sein Sohn wieder geborgen und eingeholt ist.

Vielleicht ist es bei mir auch anders – vielleicht kann ich mich nicht finden in diesem jüngeren Sohn, vielleicht bin ich in jenem älteren. Vielleicht bin ich sehr treu gewesen, habe mich immer gemüht, jeden Tag. Vielleicht habe ich durchgetragen mit einer peinlichen Gewissenhaftigkeit und mir nichts zuschulden kommen lassen. Vielleicht habe ich immer dieses Ich zurückgestellt um der gemeinsamen Sache willen. Und nun habe ich den Eindruck – ja, und da fängt es an –, ich sei zu kurz gekommen, ich sei jemand gewesen, der sich einfach alles habe gefallen lassen, und jetzt, jetzt reicht es. Dieser andere kommt zurück, – er steht in der Mitte, und ich? Da kommt plötzlich heraus, daß auch ich, dieser Gute, dieser Ordentliche, dieser Maßvolle im Grunde mich, mich gesucht habe. Auch ich habe das Ich gesucht und nicht das Du. Aber der Vater sucht auch mich, der ich schmolle, der ich mich zurückziehe, der ich nicht verstehe. Der Vater kommt zu mir und bittet mich: Du weißt doch, [57] alles Meine ist dein. Komm, wir müssen doch feiern, denn dein Bruder, der das ist, was du selber bist, mein Sohn, war verloren und ist wiedergefunden worden, er war tot, und er lebt wieder.

Der Vater kehrt sich hin zum Jüngeren und zum Älteren. Beide sind draußen – aber beide sind drinnen im Herzen des Vaters. Und beide müssen umkehren – zu ihm und so zu sich. Umkehren, darauf kommt es an, auch für uns. Wie können wir solche Umkehr lernen und leben, mitten in unserem Alltag? Wir sollten einfach die beiden Worte mitnehmen und sie leben: „Adam, wo bist du?“ und das andere Wort „Ich will zu meinem Vater gehen.“

Wie meine ich das? Adam, wo bist du? Das meint: Wir sollten sensibel werden für die vielen kleinen Anlässe, in denen wir uns spontan in unser verschlossenes Ich zurückziehen, sollten uns dort entdecken lassen von Gottes Blick, wo wir Ich sagen, ohne Du zu sagen. Wo wir uns in uns verkrampfen, wo wir uns aufspielen, wo wir gegen den anderen sind, wo wir nicht vergeben, wo wir nicht nachgeben, wo wir unseren Kopf durchsetzen.

Wo bin ich? Hinter dem Busch meines Ich verstecke ich mich, ich schaue Gott nicht ins Gesicht. Ich führe mich auf – aber ich bin nur Souf-[58]fleur im Kasten, und mein eigenes Schauspiel läuft mir davon. Oder plötzlich einmal davor erschrecken: Ja, wo bin ich denn eigentlich? Ich tue das, ich tue jenes – bin ich da drinnen? Bin ich der, als der ich jetzt wohltönend rede, oder bin ich der, der nachher müde und erschöpft zuhause kauert? Bin ich der, der jetzt große Ideale vertritt, oder bin ich derjenige, der zuhause dem Gespräch ausweicht, der sein Gesicht hinter der Zeitung versteckt und nicht mehr wagt, mit dem anderen zu reden? Bin ich derjenige, der sich den anderen von der besten Seite zeigt, oder bin ich derjenige, der sich doch immer wieder in seine heimlichen und unheimlichen Gedanken gegen den anderen verkriecht und ihnen nicht zuinnerst gut will? Wie viele Bilder von mir zeigt der Ichfilm eines jeden Tages! Welches gilt? Eines, alle, keines?

Wer bin ich? Sind wir nicht in unzähligen Scheiben aufgeschnitten jeden Tag? Haben wir den Mut, einmal unsere Nacktheit einen Tag auszuhalten. Unser Zersplittert- und Zerspalten-Sein, unsere Ohnmacht, unsere Fremde, unsere Enttäuschung, unsere lächerliche Größe, unsere erbärmliche, Erbarmen erbittende Kleinheit.

Adam, wo bist Du? Schauen wir in den Spiegel. Nicht, um über uns zu reflektieren, sondern um uns finden zu lassen. Wahrscheinlich werden wir [59] von uns aus nicht wissen, wer wir sind. Wir finden uns nicht. Aber ich will zu meinem Vater gehen. Er schaut mich an. Er ist da. Glaube ich an seinen Blick? Glaube ich an mich, indem ich an ihn glaube? Glaube ich an meine Kleinheit? Glaube ich an meine Würde in mir? Wie immer ich bin, wie verzerrt und wie entstellt und wie erbärmlich – in mir sieht er seinen Sohn. Keinen Augenblick sucht er ihn nicht in mir. Und weil er den in mir sieht, den ich nicht mehr finde, deswegen darf ich zu meinem Vater gehen. Du sagen, umkehren. Mit den ganz kleinen Bewegungen eines einzelnen Tages. Und dann vielleicht ganz neu in meinem Leben, in einem ernsten Gespräch, in dem ich mich, so wie ich bin, hineinsage in den Abgrund seines offenen Erbarmens, das mich auffangen will. Wo immer ich bin, er fragt mich: Mein Sohn, Adam, mein Sohn, Christus, wo bist du? Und ich sage es ihm: Ich will zu meinem Vater gehen.