Das Haus des barmherzigen Vaters
Den Vater finden – zum Menschen finden
Verlorener Sohn – dieses Evangelium ist die Botschaft vom Verhältnis des Menschen zu Gott – ganz gewiß. Aber dieses neue Verhältnis des Menschen zu Gott wird uns vorgestellt von Jesus in einer menschlichen Geschichte, genauer: in einer zwischenmenschlichen Geschichte. Und so dürfen wir auch unser Verhältnis zum Du, so dürfen wir auch unser menschliches Du in dieser Geschichte suchen, dürfen wir unser Du suchen im Verhältnis zu Gott. Wer Gott findet, der findet den Nächsten. Und wer den Nächsten ganz findet, bis in seine tiefste Tiefe hinein, der findet darin in letzter Konsequenz Gott.
Wie sehr beides zusammenhängt, ist mir in einer bewegenden Begegnung dieser Tage offenbar geworden. In der Morgenfrühe des heutigen Tages ist Abt Berthold von Kornelimünster 1 heimge-[61]rufen worden. Ich habe ihn an seinem Sterbebett besucht, und er hat zu mir gesagt: Es ist nicht so, daß es mir um jeden Preis nun eilig ist, endgültig bei Gott zu sein. Ich habe schon noch Bereitschaft zum Leben. Aber eigentlich ist es ja doch spannend: diese Heiligen und diese Vorfahren. Und er strahlte dabei. Man konnte die Wirklichkeit anrühren, in der er lebte – und starb. Das ist doch die Botschaft dieses Wortes: Wenn ich zu meinem Gott gehe, dann finde ich wie nirgendwo den Menschen, die Menschen, die ich tiefer kennenlernen will, die Menschen, denen ich bis auf ihren Grund begegnen will. Mein Weg zu Gott ist Weg zu den Menschen.
Es ist ungeheuerlich angesichts des Todes. Aber es ist manchmal vielleicht noch härter angesichts unseres Lebens. Im Tod zu Gott finden und in Gott den Nächsten finden, das verstehen wir vielleicht noch. Aber gelingt es uns wirklich, in unserem Alltag zum Du zu finden? Äußerlich, das ist merkwürdig, gibt es heute soviel Kommunikation wie kaum zu einer früheren Zeit. Andauernd schwirren die Drähte, andauernd reden Leute auf uns ein, andauernd verbalisieren wir etwas, sagen wir etwas, teilen wir etwas mit. Wir sind eingeübt, Gefühle auszudrücken, wir haben Gesprächstechniken entwickelt.
[62] Und doch meine ich, daß es heute nicht weniger, sondern mehr einsame Menschen gibt. Ich frage mich, wieviel von mir in den Worten ist, die ich so schnell und so unausweichlich andauernd zu sagen habe. Bin ich selber drinnen in ihnen? Oder bestätigt und vermehrt sich in ihnen nicht eben doch jene unheimliche Last, jene Fremde, jenes Zerspalten- und Zerronnen-Sein des Ich, jenes Aufgeteilt-Sein in die vielen Masken und Rollen, die einander folgen und davonlaufen wie die laufenden Bilder in einem Film? Aber wo ist der rote Faden, der dieses Ich zusammenbindet? Und wenn ich mich nicht finde und nicht drinnen bin in mir, in meinem Bild und in meinem Wort, bin ich auch nicht bei meinem Nächsten. Wenn ich nicht ich sagen kann, dann kann ich auch nicht du sagen. Aber – und vielleicht ist das etwas noch Tieferes – im Ernst ich sagen kann ich eigentlich nur, wenn ich du sagen kann.
Ich bin nie nur Ich. Ich sage immer irgend etwas. Mit meinem Gesicht, mit meiner Laune. Ich sage, das Leben ist schön, alles ist gut oder alles ist fraglich, oder es ist nichts mit allem. Irgend etwas sage ich. Und ich sage es – ob ich es will und bemerke oder nicht – den anderen, bin Einladung oder Abweisung, Mitteilung oder Entzug. In mir ist die Welt, in mir ist Gott da, meine Welt, mein [63] Gott – für dich. Und nur wenn ich ja dazu sage, wenn ich es annehme, für dich dazusein, wenn ich mich nicht versperre und dich nicht aussperre von mir, habe ich mein Wort, bin ich Ich. Ich kann nur wahrhaft ich sagen, wenn ich wahrhaft du sage. Wenn ich an dir vorbeilebe, lebe ich nicht. Ich bin, daß du bist, oder ich bin nicht.
Die Not um unser Ich ist Not um unser Du. Und die Not um unser Du ist die bedrängendste Not heute. Auch dort, wo die sozialen Nöte im Vordergrund stehen. Bei der Konferenz der lateinamerikanischen Bischöfe 1979 in Puebla wurde über die sozialen Nöte gesprochen, aber man erkannte, daß die entscheidenden Worte heißen: „comunión y participación“, Gemeinschaft und Teilnahme. Am Rande stehen, sich nicht beteiligen können, nicht drinnen sein im Austausch, in den man sich selbst hineingeben, vom anderen angenommen sein und an ihm, an dem Seinen teilnehmen kann: darin sitzt die innerste Wurzel menschlicher Entzweiung und menschlichen Elends. Daraus wächst die Kluft der Klassen, das Sich-Teilen der Gesellschaften, das Auseinanderbrechen und Auseinanderfallen, weil wir nicht gegenseitig Platz haben füreinander und nicht Beziehung zueinander sind.
Kann uns über die tiefsten Gründe der Not um [64] unser Du die Botschaft Gottes etwas sagen? Wo liegen die elementaren Gründe dafür? Dies ist die erste Frage, die wir uns stellen wollen. Eine zweite: Können wir dies lesen im Licht des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn? Und eine dritte: Bietet sich in diesem Gleichnis uns ein Weg, eine Lösung an?
Wo liegen die tiefsten Gründe für die Not um unser Du? Ich möchte an drei Geschichten erinnern, die wir gut kennen, drei Geschichten vom Anfang der Heiligen Schrift, von jenen elementaren Grundaussagen über die Schöpfung. Im Bund zwischen Gott und dem Menschen spielt von allem Anfang an die Not zwischen Mensch und Mensch eine Rolle. Wir dürfen dies aus der biblischen Geschichte von Adam und Eva erheben, auch wenn die Erzählabsicht dieses Schrifttextes dies nicht in den Vordergrund rückt.
Da reicht Eva dem Adam jene Frucht vom Baum der Erkenntnis, und er ißt. Er entdeckt, daß er nackt ist, er ist nicht wie Gott, sondern gerade getrennt von Gott. Er versteckt sich und schämt sich, und er wird gefragt: Adam, wo bist du? Warum hast du das getan? Und Adam sagt: Die Frau, die du mir gegeben hast, sie hat mir die verbotene Frucht gegeben. Die erste Antwort des schuldigen Menschen vor Gott ist eine Entschul-[65]digung, die den anderen, den Partner, beschuldigt. Das erste, was der Mensch sagt, nachdem er sich getrennt hat von Gott, ist: der andere ist schuld.
Das wiederholt sich unheimlich und vielgestaltig jeden Tag. Wir sagen es oft nicht so, aber hören wir in uns hinein. Wie oft, wie oft weisen eine Gebärde, ein Gedanke, ein Gefühl, ein kleiner Finger der Anzeige und Anklage weg von uns auf den anderen. Wenn der nicht so wäre, wenn der das nicht getan hätte, dann… Heimlich machen wir einander Vorwürfe. Sobald wir nicht mehr mit Gott eins sind, zerbricht unsere Einheit miteinander. Wir sagen, wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, dann sind sie einander gleich. Das stimmt. Und wir machen die Erfahrung, wenn zwei einem dritten nicht mehr gleich sind, dann sind sie auch untereinander nicht mehr gleich, dann bricht es zwischen ihnen. Vorwurf, Konkurrenz. Wenn wir nicht mehr eins sind mit Gott, dann ist dieses Ich, das sein will wie Gott, ein Vorwurf gegen den anderen und der andere ein Vorwurf gegen mich. Wenn Gott nicht mehr ungeteilt und vorbehaltlos mein Gott ist, dann will ich Gott sein, und dann verdränge ich – dich. Dann will ich keine fremden Götter neben mir haben, und du bist ja, wenn du du bist, wie ich. [66] Und wenn ich wie Gott sein will, dann bist du der fremde Gott, den ich nicht dulden kann.
Das steht am Anfang der Menschheitsgeschichte, und es zittert und bebt auf der scheinbar noch so ruhigen Wasseroberfläche schier eines jeden Tages, schier einer jeden Stunde, die wir erleben. Achten wir einmal darauf. Achten wir auf die vielen kleinen, leisen Vorwürfe, die in uns beben gegen den Nächsten. Zeichen, daß wir nicht ganz im Frieden sind. In jener Gelassenheit, die versteht, vergibt und selber aus der Hoffnung auf Vergebung lebt. Nicht in der Ent-Schuldigung, sondern in der Umkehr und Zukehr zu Gott ist der Ort des Friedens zwischen den Menschen.
Das ist die erste Geschichte. Und die zweite folgt sogleich. Jene von Kain und Abel. Da will der Mensch wie Gott sein, indem er alles für sich allein beansprucht. Er trennt zwischen Mein und Dein, und die Tatsache, daß nicht alles mein ist, wird zum Skandal für mich. Daß das auch mir gehören könnte, daß das auch mein sein könnte, daß ich da auch etwas davon haben könnte: damit hat der Mord angefangen. „Meum ac tuum frigidum illud verbum“ , mein und dein, dieses kalte Wort, das ungezählte Kriege gebiert, sagt einmal Johannes Chrysostomus. Mein und dein, dieses Aufrechnen, Vergleichen, Verteilen, diese[68] Konkurrenz, dieses Haben-Wollen für sich – das ist der Ursprung dessen: ich kann nicht haben, daß du bist, weg mit dir!
Ist diese Geschichte nicht die Geschichte der Menschheit? Und wenn wir noch so laut schreien: Bin ich denn der Hüter meines Bruders?, das Blut schreit. Und ich weiß nicht, ob schon in vielen Jahrhunderten soviel Blut geschrien hat wie in dem unseren. Aber nicht nur jenes Blut schreit, das aus einem durchbohrten Herzen eines Menschen fließt, auch jenes Blut schreit, das ich mit der Nadel aus dem Finger des anderen gestochen habe. Die kleine Therese sagt es als Wort der Hingabe und der Hoffnung, als Wort der Liebe: Man kann sein Blut nicht nur auf einmal, man kann es auch tropfenweise vergießen. Und sie will es tropfenweise vergießen für Gott und den Nächsten. Aber wem ich das Blut tropfenweise abzapfe, der leidet nicht weniger. Und wie viele vergießen tropfenweise ihr Blut. Bitte sagen wir nicht: Du tust das bei mir. Wenn wir so sagen, dann sind wir wieder wie Adam: Das Weib, das du mir gegeben hast, sie hat... Nein, wir müssen fragen: Wo koste ich dem Nächsten seine Angst, seine Not, sein Blut? Denken wir an die vielen zynischen Bemerkungen, an die vielen kleinen Nadelstiche, die wir austeilen, an die vie-[68]len Punkte, wo wir doch recht haben wollen und dem anderen bescheinigen, daß er unerträglich sei. Wenn in einer Stadt, in einer Familie, an einer Arbeitsstätte wie der unseren einen Tag lang keiner einem anderen einen Nadelstich gäbe – das Klima wäre ungeheuerlich anders.
Kain und Abel: das ist die zweite Geschichte, die ganz am Anfang der Menschheit steht. Wer sein will wie Gott, wer das des anderen haben will, der kann den anderen nicht haben.
Und dann eine scheinbar ganz andere Geschichte, in der es zunächst sehr gut miteinander geht und in der doch das Du verquert ist: der Turmbau zu Babel – auch auf den ersten Seiten der Schrift. Da verbünden sich die Menschen und arbeiten miteinander; sie haben ein gemeinsames Werk und müssen zusammenhalten, damit dieser riesige Turm aufsteigt. Aber ist das ein Wir? Ist das Du und Du, oder ist es nicht ein kollektives Ich, das sich selber verherrlicht und seine eigene Göttlichkeit fordert? So wird die Sprache verwirrt, es kommt zur Sprachlosigkeit. Man versteht sich nicht mehr und zerteilt und verläuft sich in die vier Winde. Das ist mehr als alles andere die Geschichte unserer Zeit. Wir können sie in verschiedenen Größenordnungen und Richtungen lesen.
[69] Der Mensch, der selber das Großartige einer selbstfabrizierten Welt aufbauen wollte, eines selbst hergestellten „Reiches Gottes“, in dem alle mit allen kommunizieren und zusammenarbeiten müssen, in dem eine wunderbare Gesellschaft wächst, in der alle funktionieren – genau das ist die Welt, in der die Sprachlosigkeit wächst. Weil alle miteinander funktionieren, weil alle aneinander verspannt sind, weil alle dasselbe Werk leisten müssen, haben wir keine Zeit mehr füreinander, werden wir sprachlos füreinander, verschwindet das Menschliche, gilt nur noch die Zahl, gilt nur noch das Soll; und nachher ist man ausgepumpt und leer, hat sich nichts mehr zu sagen und zu geben, kann sich nichts mehr fragen und läuft voreinander weg.
In den weltmächtigen autoritären Systemen gibt es eine großartige Sprachregelung. Weil angeblich alle dasselbe wollen, ist im Grunde keiner mehr er selbst und kann keiner mehr reden.
Jeder hat Angst. Man sagt nichts mehr und hat sich nichts mehr zu sagen. Ist das dort, wo man ganz großmütig, tolerant und pluralistisch ist, anders? Sicher, jeder kann denken, was er mag, man funktioniert miteinander, indem man aneinander vorbeikommt, es gibt keine Verbindlichkeiten. Aber gerade so wächst von innen her jene [70] große Sprachlosigkeit, die nicht mehr dasselbe Wort in dir und in mir kennt, das Wort, das dich und mich beim Namen nennt und das uns offen macht, auch einander zu kennen und beim Namen zu nennen, so daß wir wahrhaft eins sind.
Ich meine, viel leiser sind diese Geschichten von Adam und Eva, von Kain und Abel und vom Turmbau zu Babel uns auch erzählt in jener menschlichen Geschichte, in der Gott uns endgültig seine Geschichte mit sich erzählt, in der Geschichte vom Verlorenen Sohn. Der Verlorene Sohn bricht auf, er nimmt sein Erbe – wir haben es gehört. Er will er sein, ich will ich sein. Ich möchte endlich frei sein von dem, was mich zu Hause bindet, möchte nun selber Freunde auswählen und selber viele Beziehungen haben. Denn ich hab‘s ja, ich kann‘s ja, ich habe ja mein Geld bei mir. Er bricht auf zum Ich und findet nicht das Du. Die Freunde laufen davon, wenn er sie nicht mehr einladen kann. Und wenn sie mehr als einmal für ihn haben zahlen müssen, sind sie weg. Wer zum Ich aufbricht, der findet nicht zum Du, und er findet nicht zum Ich. Wer nur sich will, verliert beides. Das Ich und das Du.
Das ist die Geschichte der Verlorenheit des Verlorenen Sohnes. Wo ich gelten will, wo ich haben und groß sein will, da komme ich ja doch nur [71] in die Konkurrenz, in das „Gibst du mir, so geb‘ ich dir“, es gibt keine innere Gemeinschaft mehr. Und ohne diese innere Gemeinschaft bin ich selber erstorben.
Der Verlorene Sohn findet sich nicht mehr, nachdem er die Freunde nicht mehr findet und sie ihm davongelaufen sind. Er ist hineingerannt in diese Adam-Eva-Situation: er vergleicht sich mit dem anderen, er hört Vorwürfe und macht Vorwürfe und findet keine Freundschaft mehr.
Denken wir an den anderen Sohn. Er erhebt Vorwürfe und urteilt, wenn er sagt: Der hat alles durchgebracht, und du, Vater, bist zu ihm so ungerecht gut! Vielleicht heißt er der ältere, weil der Erzähler an Kain gedacht hat. Es kommt nicht so weit wie dort, aber Kain steckt drinnen. Kain steckt überall drinnen, wo ich urteile.
Ich halte es für eine der ärgsten, leisesten, gefährlichsten Dinge in unserem Leben, für eine der Wurzelsünden, daß wir andauernd urteilen übereinander. Oft haben wir diese letzte Ehrfurcht nicht, es ernst zu nehmen, daß nur einer weiß, was im Herzen des Menschen ist. Dieser Schnitt geht hindurch zwischen uns: ich will in Ordnung sein – und wie ist der? Das ist gegen den Vater, der uns beide in seinem einen Herzen hält, den und mich.
[72] Ich weiß, wie mir als Student das einmal weh tat, als ich zu einem Freund kam, der nicht wußte, daß ein dritter auch mein Freund ist, und über ihn loszog. Ich war verletzt. Der Vater ist verletzt, wenn ich den anderen, der in seinem selben Herzen wohnt, verletze. Wir gehören zusammen. Wir sind eins im Herzen des Vaters. Und jedesmal nehmen wir uns aus diesem Herzen heraus, wenn wir urteilen.
Ich weiß schon, daß man verschiedene Eigenschaften verschiedener Menschen sehen muß, um ihnen das Richtige anzuvertrauen, um auf die rechte Weise mit ihnen zu reden. Aber das muß innerlich so frei und gelassen geschehen, daß eigentlich keine Spur in uns zurückbleibt, kein geringeres Wohlwollen, kein Darüberstehen, kein abschätzendes Vergleichen. Sobald das der Fall ist – und das ist so schnell der Fall –, ist irgend etwas zerbrochen.
Kain und Abel im älteren und jüngeren Sohn. Wohl denn, daß es den Vater gibt, der den toten Abel – er war tot – wieder zum Leben erweckt.
Und schließlich – wenn ich noch einmal auf den jüngeren Sohn schauen darf – diese oberflächliche Freundschaft und Gemeinschaft derer, die sich mögen und einladen, weil und solange sie haben, ist im Grunde schon so etwas wie der Auf-[73]bau eines Turmes von Babel: bald greifen auch hier das Mißverstehen und die Sprachlosigkeit Platz. Bauen wir nicht andauernd, wenn auch noch so kartenhäusige, noch so schwache, noch so oberflächliche und leichtgewichtige Türme zu Babel? Bauen wir nicht immer wieder Werke auf, in denen wir eigentlich uns suchen und uns verherrlichen wollen? Wir verstehen uns mit den anderen gut, weil es uns gemeinsam um je unser Ich geht. Nein, alles, was wir nur aufs Haben und Gelten aufbauen, alles das mündet im Verlieren dessen, was wir haben und gelten, im Verlieren dessen, was wir selber sind, im Verlieren des Du und des Ich.
Wo aber zeigt uns das Gleichnis den Weg? Im Herzen des Vaters. Der Vater, das ist zuerst, aber nicht nur der Hinweis auf Gott. Wir alle sind berufen, als Söhne des Vaters Vater zu sein. Das für unseren Nächsten zu sein, was der Vater ist für seine beiden Söhne. Da liegt die Lösung. So leben wir „Du“ und werden frei zum Ich. Der Vater, der einfach weiß: der andere gehört zu mir. Und weil er das weiß, läßt er ihn einerseits frei, bindet ihn nicht, läßt ihn gehen, aber er erwartet ihn.
Wenn doch dies beides immer in uns wäre: den anderen frei geben an sich, daß er er selber sein darf, und nie Schluß machen mit ihm. Wissen, er [74] gehört zu mir, er bleibt in mir, ich warte auf ihn. Gehen lassen, aber nicht stehen lassen. Immer neu auf ihn zugehen, immer neu ihn erwarten. Nicht Aufrechnen, nicht Vorwürfe machen, vielmehr ausschauen, annehmen, beschenken und sich beschenken lassen, wenn er kommt. Froh sein, es zum Fest haben, wenn er wiederkommt. Und wenn der andere nicht versteht, dann hinausgehen zu ihm, werben, erklären, einladen, wieder warten. Sein wie der Vater. Und sein wie jener Verlorene Sohn, der bereit ist, sich vor einem anderen zu demütigen und klein zu machen. Der um Verzeihung bittet. Auch einen Menschen um Verzeihung bitten. Das ist ganz wichtig. Nur wer den Mut hat, kleiner zu sein als der andere, kann wahrhaft gleich sein wie der andere.
Zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn ist das so. Der Sohn macht sich klein. Der Sohn dient. Der Sohn gehorcht. Und er ist gleich. Nur wenn wir uns voreinander verneigen, füreinander Platz haben, nur wenn wir einander „die Füße waschen“ und einander zuhören, nur wenn wir den anderen groß sein und aufgehen lassen in dem Wunder, das er ist, sind wir selber so groß wie er. Größe ist nur dort, wo ich groß mache und wo ich selber deswegen klein sein kann.
Nun, wir sagen vielleicht: Das hört sich alles [75] gut an. Wir wissen, daß wir so sein sollten. Das wäre ein ideales Programm, aber das geht einfach nicht. Ich möchte jetzt nicht moralisch sagen: Es geht doch! Wie viele Male habe ich es probiert. Immer wieder erfahre ich, daß ich zu klein bin dafür. Wie viele Du stehen vor mir, wenn ich das alles sage, und sind ein Vorwurf an mich. Es ist nicht leicht, das zu sagen. Man kann es gut predigen, aber wenn man dabei wirklich sich gegenwärtig hat, wie vieles weiß man von sich selbst! Ich bin ganz und gar angewiesen auf Gott, auf sein Erbarmen. Und immer wieder entdecke ich, daß mein Herz nicht ist wie das seine. Nicht so weit, daß alle drinnen sind; nicht so tief, daß ich ernst damit mache, der andere gehört zu mir; nicht so weit, daß der andere umarmt und umspannt ist und daß ich immer auf ihn warte und auf ihn zugehe und zuhöre und mich erniedrige und neige und einlade – nicht so. Ich bin so nicht. Und der Vater weiß das. Und was hat er getan? Er ist mir entgegengekommen in seinem grenzenlosen Erbarmen. Er hat mir nicht nur diese große Botschaft hingestellt, sondern er ist zu mir hergekommen. Er hat seinen eigenen Sohn gesandt dorthin, wo ich bin. In ihm finde ich sein Gesicht und mein Gesicht und dein Gesicht zugleich. Weil er so gut ist und weil ich in diesem Jesus [76] Christus den Vater und mich selber und dich finde, deswegen kann ich leben.
Und wie geht das, so zu leben? Wie ändert das mein Verhältnis zum Du?
Jetzt muß ich nochmals vom Papst erzählen und von seiner Enzyklika über das göttliche Erbarmen. Es gehört zum Schönsten und Bewegendsten, was ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Er zeigt uns vier Stufen des Erbarmens, in denen Gottes Geschichte mit mir, meine Geschichte mit Gott und daraus meine Geschichte mit meinem Du mir vor Augen gestellt ist, so, wie sie in Jesus Christus eröffnet wurde. Diesen vier Stufen folgend, können wir vielleicht einen Weg finden für unseren Alltag, wie wir erneut dieses Wort Du lernen können.
Das erste, was der Papst sagt, heißt ganz einfach: Gott sucht immer seinen Sohn. Der Vater sucht immer seinen Sohn, und ich bin sein Sohn – auch wenn ich verloren bin. Jeder ist sein Sohn, auch wenn er sich verloren und verlaufen hat. Ich kann nie einem Menschen begegnen, in dem nicht Gott seinen Sohn sucht. Auch in mir. Er hat ihn in mir gesehen, und ich glaube ihm. Ich glaube, daß ich so einer bin wie sein einziger Sohn, daß sein Bild in mir ist. Dazu bin ich geschaffen, Und im Grunde merke ich das auch. [77] Wenn ich nicht kann, wie ich will, wenn ich so klein bin und so niedrig, so Adam und so Kain und so wie die großen Bauleute von Babel, so wie der Verlorene Sohn oder wie der ältere – ich merke doch, daß ich eigentlich nur frei und gut in den Augenblicken lebe, in denen ich lebe wie der Vater lebt. Er hat sich mir angeboten. Er hat mich zu sich hin erschaffen. Ich bin in ihm. Er liebt mich. Ich darf an sein Erbarmen für mich glauben. Ja, das ist das erste und Grundlegende für ein entkrampftes Verhältnis zum anderen, für ein Du-sagen-Können:
Ich glaube an Gottes Erbarmen für mich. Lassen wir einmal diese Selbstvorwürfe, lassen wir es, uns böse zu sein. Erkennen wir uns als Sünder, aber vertrauen wir noch mehr darauf, daß er uns mag, daß er uns liebt, daß er sich in uns kennt, sucht und findet. Glauben an die Liebe. Er hat sich meiner erbarmt. Er sucht seinen Sohn in mir. Erste Stufe.
Zweite Stufe: Jesus kommt nicht nur, um diese Botschaft mir zu sagen, sondern Jesus ist derjenige, der mir entgegengeht bis ins äußerste, in jeden Abgrund hinein. Dort wird er selbst einer, der auf das Erbarmen des Vaters angewiesen ist. Er gibt sich selber hinein in die Gestalt des Verlorenen Sohnes. Der Verlorene Sohn ist er, und ich [78] bin drinnen in ihm. Er schreit um Erbarmen. Er sagt: Ich kann nicht mehr. Er sagt: Nimm diesen Kelch von mir. Er sagt: Jetzt ist genug. Er sagt: Warum muß ich denn? Was rebelliert gegen Gott und was den Nächsten nicht mehr mag und wo ich am Ende bin mit ihm, wo ich ihn nicht mehr aushalten kann, das findet er in sich selbst. Er nimmt es in sich hinein. Und dort, wo er wie ich nicht mehr kann und nicht mehr mag, verlassen und verloren ist, dort sagt er: Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine. Dort: Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist. Dort sagt er ja zum Vater. Dort spannt er die Arme aus, ganz weit, grenzenlos weit über alle, über mich. Dort reißt er sein Herz auf, daß jeder, und auch der Fernste, drinnen Platz hat. Wir sind drinnen in ihm, er kommt und ruft mit uns um Gottes Erbarmen, schreit mit uns um die Liebe, die wir nicht haben, zum Vater. Und so dürfen wir wissen: Unser Versagen, auch unser Versagen gegeneinander, ist drinnen in ihm, geborgen in ihm, wir gehören in ihm zusammen.
Und dann die dritte Stufe, die so entscheidend ist für unser Verhältnis zueinander: Solange diese Weltzeit dauert, bleibt der Herr – auch als der Auferstandene – jener, der mit den Wundmalen des Gekreuzigten vor unserer Tür steht und an-[79]klopft. Er hat sich mit uns allen eins gemacht, er hat sich mit jedem Menschen eins gemacht. Er begegnet mir in jedem Menschen, im geringsten der Brüder. Und er klopft an. Wenn ich einen Menschen nicht mehr verstehe, wenn ich es nicht mehr kann mit ihm, weiß ich nur noch dieses Eine: auch für ihn ist Jesus gestorben. Auch er ist in ihm. In ihm klopft Jesus an, und ich bin ihm von Herzen gut. Ich nehme ihn innerlich auf. Ich sage ja zu ihm, selbst wenn er dieses Ja nicht versteht. Ich urteile nicht mehr. Ich nehme an, ich sage mir: Das bist du. Keiner, an den ich denke, keiner, mit dem ich spreche, keiner über mir und keiner neben mir und keiner unter mir, keiner ganz hautnah und keiner ganz weltfern, der nicht Er ist. Er klopft an. Jeder Blick, der mich streift, sein Blick, jedes Wort, das ich höre, sein Wort, jeder Schritt sein Schritt auf mich zu.
Aber das ist doch noch nicht das Ende. Sondern dann kommt die vierte Stufe, und für sie sind wir geschaffen. Was sich zwischen Gott und mir ergibt, zwischen Jesus und mir, das soll in der Gegenseitigkeit spielen. Wir sollen zueinander barmherzig sein. Und wenn ich zu dir barmherzig bin in diesem vollen und wunderbaren Sinn, daß ich in dir ihn annehme, dann bin ich der Beschenkte. Der Papst hämmert es uns ein: Nur [80] dann habe ich geliebt, wenn ich beschenkt bin von dem, dem ich alles gegeben habe. Nur dann habe ich du gesagt, wenn ich danke gesagt habe zum Nächsten. Nicht ein bitteres Danke. Wenn du mir schwerfällst: danke, daß ich nicht nur meine Bestätigung finde; danke, daß ich um deine Not, die mir Vorwürfe macht, weiß. Wenn du gut zu mir bist: danke, denn du hast mich beschenkt. Wenn es dir ein bißchen besser geht durch mein Wort: danke, jetzt kann ich besser leben. Denn ich bin ja, daß du bist.
Ich meine, so sollten wir leben. Wir sollten an die beiden Worte denken: Er klopft an. Egal, mit wem ich umgehe: Er klopft an. Deswegen nicht urteilen, sondern öffnen, gut sein, ja sagen. Er klopft an. Und das andere Wort: danke. Jedem, dem wir begegnen: danke.
Dann fängt zwischen uns etwas an von jener göttlichen Einheit zwischen Vater und Sohn, die sich nie verlieren, die immer eins sind miteinander. Dann erkennen wir etwas von dem, daß wir Familie sind wie Gott, daß wir geschaffen sind nach dem Bild dessen, der Vater ist und Sohn im einen Geist, in der Gegenseitigkeit jener Liebe, die immer sich sucht und sich findet im anderen. „Laß alle eins sein, wie du, Vater, in mir und ich in dir, damit die Welt glaube“ (Joh 17,21).
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Abt Dr. Berthold Simons OSB von der Abtei St. Benedikt von Aniane in Aachen-Kornelimünster starb im Alter von 61 Jahren am 18. 12. 1980 nach sehr bewußt im Glauben angenommener schwerster Erkrankung. Am Abend dieses Tages wurde diese Meditation im Aachener Dom gesprochen. ↩︎