Theologie als Nachfolge
Denk-stil und Denk-weg Bonaventuras
Das unverwechselbar Eigene bei Bonaventura, aber auch das, was er heutigem theologischem Fragen und Denken zu sagen hat, liegt weniger in seiner „Position“ als in seinem Weg, weniger im Was [33] als im Wie seines Denkens. Die Meinungen, die Bonaventura vertritt, liegen großenteils innerhalb der Bandbreite dessen, was man bei einem scholastischen Philosophen und Theologen vermuten kann; doch die Konstellation der unterschiedlichen Inhalte, ihre Kontexte und zumal ihre Genese sind frappierend. Daß Methode, daß Weg, daß Wie eine solche Rolle in seinem Denken spielt, zeichnet ihn innerhalb seines Zeitalters besonders aus. Aber dieses Wie und sein Rang sind eben nicht Zusatz zur Sache, zum Inhalt des Denkens, sondern Reflex, ja Konsequenz davon. Nachfolge, so sahen wir schon, hat Wegcharakter, und das Spezifische des Weges der Nachfolge ist, daß er ein Weg, aber Weg aus doppeltem Ursprung ist, Weg, der einzig und allein geprägt ist durch den, der vorgeht, Weg, der jedoch gerade so auch den spontanen und eigenen Weg dessen ausmacht, der nachfolgt. In der Tat sind das die beiden Grundzüge im Wie bonaventuranischen Denkens: Es ist weghaftes Denken, das eine Bahn entwickelt und die Stimmigkeit und Tragfähigkeit dieser Bahn nur dem entbirgt, der selbst, der im eigenen Engagement des Denkens und Lebens mitgeht. Das zweite Charakteristikum: Bonaventuranisches Denken ist strukturales Denken, will sagen, Denken, dessen innere Einheit nur dann aufgeht, wenn sie von verschiedenen Punkten zugleich genetisch gelesen wird. Ich muß aus der Position Gottes und aus der Position der eigenen Existenz zugleich den ganzen Denkweg „erzeugen“, und ich muß ihn noch einmal erzeugen aus der vermittelnden Mitte des Christus, der göttlichen und menschlichen Anfang in sich beschließt; ich muß in objektiver spekulativer Entfaltung der Data, auf denen das Ganze aufruht, und zugleich in subjektivem personalem Vollzug dasselbe Geschehen durchlaufen und muß es nochmals als die Selbigkeit von beiden, als jenes durchlaufen, was Rationalität und Vollzug als seine beiden unlöslichen Dimensionen aus seiner Mitte entläßt; ich muß dasselbe als bleibende, gefügte „metaphysische“ Gestalt und als sich begebende, prozeßhafte Geschichte und muß es nochmals als den Zusammenhang von beidem, als die Gleichung von beidem begehen. Lösen wir die soeben aufgestellte These zumindest durch einen knappen Hinblick auf ihre Anlässe im Werk Bonaventuras ein. [34] Zwar stammt von ihm einer der bedeutendsten mittelalterlichen Sentenzenkommentare und auch manches kostbare Kommentarwerk zu Büchern der Heiligen Schrift; aber insgesamt ist weniger ein interpretierendes Entlanggehen an den vorgeprägten Texten oder ein scholastisches Abhandeln einzelner quaestiones, d. h. von Fragen mit zugehörigen Begründungen und Einwänden typisch. Kennzeichnend sind für ihn weit mehr in sich stehende Werke, in denen er einen einzigen thematischen Gedanken in einer von ihm selbst entworfenen Ordnung durchführt. Das Thema schafft sich bei ihm den Weg seiner Behandlung von innen her. Damit reicht er über scholastische Gepflogenheiten in jenen Denkstil voraus, der zumal in den großen Entwürfen der Epoche des deutschen Idealismus begegnet. Die Gliederung und der innere Prozeßcharakter des Itinerarium mentis in deum, des Pilgerbuchs der Seele zu Gott, und der Reductio artium ad theologiam, der Rückführung aller Wissenschaft und Kunst aufs Urbild der Theologie, sind „klassische“ Ausformungen des Wegcharakters, der Bonaventuras Denken insgesamt prägt. Er tritt allerdings besonders eindrucksvoll dort zutage, wo das Wegmotiv gar nicht als solches auftaucht; Aufreihungen, Gliederungen, Stufungen, die nicht selten aufs erste als bloße Spielerei erscheinen, können einem Denken, das auf seinen eigenen Weg achtet, ihrerseits einen stringenten Wegprozeß im Gedanken Bonaventuras erschließen.