„Nächte, die Licht geben“

Denken

Eine ganz ähnliche Bewegung findet sich im Werk Hemmerles. Die Erfahrung der Trennung zwischen Gott und Mensch und das Bestreben, sie zu überwinden, bildete ein zentrales Movens seines Denkens. Bereits mit Blick auf diese Ausgangserfahrung gibt es eine Parallele zu Johannes vom Kreuz, denn „[n]ächtliche Finsternis entsteht im Verstand [...] Deswegen, weil im ‚Subjekt‘ [...] die zwei mächtigst denkbaren Gegensätze – Göttliches und Menschliches – aufeinanderprallen“.1 In Hemmerles phänomenolo-[118]gischer Besinnung auf das Heilige2 gerät die Vernunft bei dem Versuch, das Heilige zu denken, an ihre Grenzen und wird nicht nur mit der Nichtigkeit alles Seienden, sondern mit der eigenen Abgründigkeit konfrontiert: das Denken kann nämlich nicht nur nicht die Frage beantworten, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, sondern auch nicht die Frage, warum es überhaupt denken kann. Diese Aporieerfahrung, in der sich das Denken radikal in Frage gestellt erfährt, lässt sich metaphorisch als Nachterfahrung beschreiben. Hemmerle verwendet in diesem Zusammenhang nicht umsonst das Bild eines biblischen Nachtereignisses, des Kampfes Jakobs mit dem Unbekannten. Angesichts der „Unbeantwortbarkeit der Frage nach seinem Fragenkönnen findet das Denken sich an einer unbedingten Schranke, die [...] ihm erst sein Wesen zuweist. [...] Denken ist mit sich beschenkt [...], es ist durchstimmt von seinem entzogen-gewährenden Anfang“3, dem Heiligen. Im Wort „durchstimmt“ deutet sich die Einheit von Denken und Heiligem, von Mensch und Gott an, die der Verstand im Zuge dieser Aporie- bzw. Nachterfahrung erkennt bzw. in der er sich vorfindet, wenn er von sich selbst absieht. Nur wenn er sich von seinem ursprünglich selbstmächtigen Vollzug – Hemmerle gebraucht den Begriff des „fassenden Denkens“4 – abwendet und angesichts der Aporie, angesichts der eigenen Abgründigkeit zum „verdankenden Denken“5 wird, macht, er die Erfahrung der Vereinigung mit Gott, die doch eine Nichterfahrung ist. Hemmerle bringt diesen Vollzug nichtintentionaler Intentionalität auch in Auseinandersetzung mit dem Werk Meister Eckharts im Begriff des „lassenden Denkens“ zum Ausdruck.6

Wenige Monate vor seinem Tod kehrt das Motiv der Nacht in einer der Predigten Hemmerles wieder, in der Hemmerle einige Wegweisungen für den Weg zu Gott skizziert und die folgende Beobachtung mitteilte: „Die Nacht wird immer dichter. Der Herr kommt immer näher.“7 Hemmerle plädierte nicht zuletzt mit Blick auf die Situation der Kirche dafür, mit Nüchternheit die Dunkelheit, das Schwierige und Abgründige zu sehen und gleichzeitig mit der Zuversicht des Glaubens das Kommen des Herrn zu erwarten. Nur in der Spannung aus beidem lässt sich in seinen Augen die dichte Nacht durchstehen; Sicherheit auf das Ende der Nacht, gibt es nicht. Sondern es bleibt nur die Hoffnung, dass „[d]enen, die dieser Nacht wieder vertrauen lernen“, ihre Schuld zur Gnade wird, „tönt doch der Ruf des ,frühen Vogels‘, der einst den traurigsten Verrat auf Erden anzeigte, die ganze Nacht hindurch als unbeirrbarer Verkünder unseres Heils.“8


  1. Ders., Die dunkle Nacht, zit. nach A.M. Haas, Die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes, a.a.O., 120. ↩︎

  2. K. Hemmerle, AS I, 111–175. ↩︎

  3. Ebd., 132. ↩︎

  4. Ebd., 122ff. ↩︎

  5. Ebd., 131ff. ↩︎

  6. Vgl. hierzu B. Welte, Meister Eckhart. Gedanken zu seinen Gedanken, Freiburg/Br. 1979. ↩︎

  7. K. Hemmerle, Nicht Nachlassverwalter, sondern Wegbereiter der Zukunft. Predigt im Pontifikalamt am 7. November 1993 aus Anlass des 18. Weihetages, in: ders., Nicht Nachlassverwalter, sondern Wegbereiter, a.a.O., 107–114, 108. ↩︎

  8. R. Schneider, Die Nacht des Heils, a.a.O., 123. ↩︎