Berufung und Nachfolge. Zum Text „Leben heißt antworten“: Was bedeutet Berufung heute?

Der An-Ruf und die beiden fundamentalen Berufungen

Hemmerle beginnt diesen Text zunächst mit anthropologischen Reflexionen. Für ihn steht fest: der Mensch ist keine „Monade“, wie man mit Leibnitz sagen könnte. Und doch ist die Ur-Erfahrung des existenziellen Alleinseins bei Hemmerle berücksichtigt. Dem Menschen drängen sich unabwendbare Fragen auf: Wer bin ich und wofür bin ich? Für und mit wem bin ich? Ausgehend von diesen Fragen ergibt sich folgender Befund: Das Leben des Menschen ist unverfügbar – und doch berührbar durch Liebe. Die Erfahrung des „Nicht-gefragt-worden-seins“, quasi des Geworfen-seins ins Leben führt im Ausgang von Hemmerle nicht in einen existenziellen Nihilismus wie etwa bei Sartre. Mit anderen Worten: diese Erfahrung zerfließt nicht im Ab-Grund sondern führt zum tragenden Ur-Grund.

In der Unverfügbarkeit meines Seins ereignet sich eine anthropologische Grunderfahrung: Ich begreife mich als Adressat eines An-Rufes. Von dieser Erfahrung ausgehend ordnet sich mein Leben in all seinen Dimensionen neu: im Verhältnis zu mir selbst, zu meinen Mitmenschen, zu meiner Familie, zu meiner gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umwelt. Die Strukturen, in denen ich stehe, sind dann keine abgesonderten Antipoden zu meiner Person, sondern werden gleichsam zu Resonanzräumen des existenziellen An-Rufes, der an mich ergeht und der mich nicht nur in meiner Un-Verfügbarkeit belässt, sondern mich auch un-vertretbar macht. Diese Herausforderung ist kein moralisierender Appell. Und doch trifft mich der An-Ruf als Mensch in all seiner Ernsthaftigkeit: Mensch sein heißt dann, mich als Person aktiv und gestaltend zu meinem Umfeld zu verhalten. Diese Herausforderung des immer sich vertiefenden Mensch-Seins ist jeder konkreten Berufung zu einer kirchlichen Lebensform vorgeordnet. Vielmehr folgen daraus zwei fundamentale Berufungen, auf deren Grundlage konkrete Wege der Berufung wachsen können. Diese zwei fundamentalen Berufungen, die hier nur angedeutet werden können und nach weiterer Vertiefung verlangen, lauten:

  • Mensch sein und immer mehr Mensch werden
  • Leben, d. h. leben in Fülle, aktiv, gestaltend, kreativ, antwortend auf das Geschenk, das das Leben selbst ist