Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Der Angelpunkt des Begreifens der göttlichen Freiheit: die erste Potenz
Die zuletzt nachgezeichneten Gedanken Schellings scheinen die einzelnen „Potenzen“ hinter sich zu lassen, ihrer Ausdrücklichkeit entbehren zu können. Gleichwohl bleibt die erste Potenz, bleibt das Seinkönnende der Angelpunkt der Denkbewegung.
Das Sich-Erheben der ersten Potenz, das Erscheinen der Möglichkeit des Anderen im Ansichsein Gottes ist für Schelling das eigent- [259] liche Ereignis, an dem Gott zu sich selbst kommt, besser: von Ewigkeit gekommen ist, und das Sich-Bewähren seiner Gottheit angesichts der in diesem Anderen schein-baren Konkurrenz ist eben der uns vertraute Prozeß der Potenzen. Was Gottes Freiheit kann, bleibt in ihnen vorgezeichnet und durch sie dieser Freiheit verwahrt, wenn auch sie selbst dem überhoben ist. Dem überhoben ist sie nur kraft des unkonstruierbaren „Einfalles“ der Möglichkeit des Anderen, seine frei sich verhaltende Tat ist je schon Antwort auf ihr Erscheinen. Dies bleibt der Triumph der ersten Potenz, somit aber der Triumph des Denkens.
Sie ist, vom absoluten Prius her zunächst, das „Ansich“-Sein des absoluten Prius 76. In ihr ist, vor allem Hinblick auf anderes Sein, das absolute Daß je schon ausgelegt auf etwas wie „Subjektivität“ hin: Sein ist – das wird in ihr offenbar – Selbstsein, auch wenn das Selbstsein sich noch nicht als solches ergriffen, entschieden und gelichtet hat, die urständliche Selbstlosigkeit bloßen Seins ist nur die Voranfänglichkeit und Vorläufigkeit zum als solches gewußten, gelichteten Selbstsein. Umgekehrt ist aber sie selbst als die anfängliche Orientierung des Seins aufs Selbstsein, auf Subjektivität hin das je Zweite, nur Auslegende und Lichtende des „Seins“. Sie umgreift, als Lichtung, die Doppelheit Sein-Lichtung in sich, in sich aber als im Zweiten zum Sein und ist so die Stelle, an der das Sein hinter sie und sich zurückstößt ins Versammelnde von Sein und Lichtung, in die „Notwendigkeit der Einheit von Sein und Denken“1.
Diese Notwendigkeit erreicht sich selbst, bestätigt sich und befreit sich zugleich von sich an ihr, an der ersten Potenz, an ihrer aus dem Sein nicht herausrechenbaren und doch das Sein je schon und je erst erhellenden Zufälligkeit zum Sein. Diese aber geht auf, indem sie nicht das Notwendige, das absolute Daß, sondern das ihm selbst Zufällige, das „Andere“ zeigt. „Subjektivität“ als An-sich geht sich selbst erst auf in der Erhellung des Außer-sich als des im An-sich implizierten Richtungssinnes. Selbstsein ist Aussein auf Anderes, ist aber Selbstsein nur, sofern dieses Aussein nicht notwendiger Umschlag ist, sondern eben „Möglichkeit“, Vermochtheit. Als Möglich- [260] keit und Vermochtheit geht die erste Potenz aber erst auf, indem sie den Zusammenhang und Prozeß der drei Potenzen inauguriert. Sie bewähren sich so als die Potenzen der göttlichen Freiheit.
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S. XI 587. ↩︎