Was heißt „katholisch“ in der katholisch-sozialen Bildung?

Der Ansatz beim „Und“

In der Tat, wer sagt, das Katholische sei durch das „Und“ und nicht durch das „Oder“, durch das „Sowohl als auch“, durch die Synthese und nicht durch die Disjunktion gekennzeichnet, der hat im Grunde noch nichts gesagt. Der Ersatz inhaltlicher Aussagen durch formale Dynamismen ist, wenn auch oft in anderem Sinn als dem eben bemühten, eine gerade heute verhängnisvolle Verfremdung des Christlichen. Doch es ist kaum richtiger, wenn man unter „katholisch“ einfach die Synthese von Gegensätzen versteht, als wenn man Kirche nur von der Dynamik der Veränderung des jeweils Bestehenden her bestimmt.

Gleichwohl soll hier an das Wörtchen „und“ angeknüpft werden – weil es in einem großen Gedanken unseres Jahrhunderts seine mehr als bloß formale Bedeutung bewährte. Dieser Gedanke ist heute weithin verschüttet und zu-[18]dem nicht im institutionellen Raum des Katholischen, ja nicht einmal in dem des unmittelbar Christlichen angesiedelt. Gemeint ist die Philosophie von Franz Rosenzweig, die vor allem durch ihre Wirkung auf Martin Buber in die Breite wirksam geworden ist. Dieser Einfluß auf Buber erschöpft jedoch keineswegs die eigene Bedeutung Rosenzweigs, auf die Bernhard Casper1 in einläßlichen Analysen aufmerksam macht. Es steht zu hoffen, daß Rosenzweigs Werk, das mit einer der erregendsten Biographien unseres Jahrhunderts verflochten ist, in absehbarer Zeit wieder allgemein zugänglich wird. Im folgenden soll nicht aus einzelnen Aussagen Rosenzweigs oder auch aus seiner Grundkonzeption des Stern der Erlösung2, seines Hauptwerks, eine Antwort auf die gestellte Frage versucht werden. Das wäre abwegig. Ein fundamentaler Gedanke Rosenzweigs kann indessen einen Anstoß geben. Er sei zunächst in verkürzender Allgemeinheit und unter Absehung von einzelnen Texten referiert3.

Nach Rosenzweig war die Reduktion einer der Grundfehler abendländischen Denkens. Die drei großen Grundwirklichkeiten und Grundbegriffe sind ihm Gott, Welt, Mensch. Das Bemühen des Denkens im Abendland bestand weithin darin, diese drei Wirklichkeiten in ein System zu bringen, in welchem aus einem Prinzip alles andere ableitbar ist. Die Eigenständigkeit von Welt, Mensch und Gott droht dabei verlorenzugehen. So entsteht die Gefahr, entweder in ein verfügendes Ausdenken der Wirklichkeit vom Standpunkt Gottes aus zu geraten, das dann zu einem pantheistischen Monismus führt; oder in einen kosmologischen, materialistischen Monismus, der alles als Selbstprojektion und Überbau kosmischer bzw. materieller Vorgänge deklariert; oder – schließlich – in eine Konstruktion des All aus dem Ego des Menschen, die Gott und Welt als seine Projektionen erscheinen läßt. Was solchem reduktivem Denken entgeht, indem es erklärend alles in den Griff zu bekommen vermeint, ist die lebendige Beziehung, ist das „Und“.

Gott und Welt und Mensch sollen zugleich gedacht werden; keines soll degradiert werden zum bloßen Erklärungsgrund des anderen, keines soll das andere zum bloßen Derivat verderben, keines aber auch von diesen Derivaten in seiner Ursprünglichkeit und Eigenheit verdorben werden. Es gilt, das Göttliche Gottes, das Menschliche des Menschen, das Welthafte der Welt zu wahren. Es gilt, Schöpfung, Offenbarung und Erlösung denken zu können. Ein bloß analysierend-nachdenkendes Denken, ein bloß erklärendes und systematisierendes Denken vermögen dies jedoch nicht.

Wie muß dann das „neue Denken“ sein, dem es gelingt, die Beziehung und darin das je Eigene Gottes, der Welt und des Menschen zu wahren? Es ist [19] ein Denken, das des anderen und der Zeit bedarf;4 es ist Denken, das sich als Gespräch versteht, das als Gespräch geschieht, Denken, das nicht selbsttätig aus irgendeinem Axiom das Ganze zu entwickeln versucht, sondern das auf das „Und“ des Hörens, des Vernehmens und des Mitteilens angewiesen ist.


  1. B. Casper, Das dialogische Denken (Freiburg 1967). ↩︎

  2. F. Rosenzweig, Stern der Erlösung (Frankfurt 1921). ↩︎

  3. Vgl. etwa ders., Das neue Denken. In: Kleinere Schriften (Berlin 1937) 373–398. ↩︎

  4. A.a.O. S. 386f. ↩︎