Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Der Ansatz der Potentialisierung

a) Voraussetzung: Implikation des Prinzips in den Potenzen Die Geschlossenheit des Seienden im reinen Denken, seine immanente Absolutheit ist nur die Verborgenheit seiner Ohnmacht: an sich selbst nicht das Seiende als seiend zu erreichen, sondern als bloße „Figur“, als bloßes Was. Die sich in die Einheit eines Wesens rundenden drei Bestimmungen des reinen Denkens sagen, was das Seiende ist, implizieren zwar, das heißt aber: verbergen in solcher Implikation das Prinzip1, sie sind es auf die Weise der Potenz und sind es somit gerade nicht, solange sie nicht als seine, des Prinzips Potenz zu denken und somit als seine Macht seine Bezeugung sind. In der Stellung des reinen Denkens aber sagen diese Potenzen nur, was das Prinzip sein kann, was es ist, wenn es ist, sie sind der hypothetische Wesensentwurf.

Das bestätigt sich an der „Verwechselbarkeit“ jeder der drei Potenzen mit dem Prinzip. Jede ist eine Was-Bestimmung, die es erst nachträglich von sich ausschließen muß, nicht selbst das Prinzip zu sein, denn sie ist nur Prädikat, für sich allein sogar je nur ein Prädikat und erst mit den anderen gemeinsam das Prädikat des Prinzips.

Das Subjekt spiegelt in seiner Voraussetzungslosigkeit die Ursprünglichkeit des absoluten Prius, seine Voraussetzungslosigkeit weist sich indessen als die über sich hinaustreibende Bedürftigkeit der Potenz aus. Das Objekt spiegelt als rein Seiendes den reinen Aktcharakter des unvordenklichen Daß, es „ist“ dieses Daß aber nur als der reine Wesensakt, steht so als Prädikat auf der Seite der δύναμις τοῦ καθόλου2. Das Subjekt-Objekt schließlich spiegelt als Unabhängigkeit und Selbstbesitz die Absolutheit des rein in sich selbst stehenden Prinzips, aber es spiegelt sie im Denken aus dem Denken, als dessen Selbstbegriff, den es dem Prinzip unterbreitet: [203] solches bist du, wenn du bist! Auch hier ist das Denken also auf das seinen Begriff erfüllende unbedingte Daß absolut angewiesen, nicht aber seiner aus sich selbst her mächtig.

Den drei Bestimmungen des reinen Denkens wohnt so im Blick auf das absolute Prinzip eine Ambivalenz inne, die sich nicht von selbst, nicht in der Geschlossenheit ihrer Figur entscheidet. Die Verbergung des Prinzips in ihnen muß zur Eröffnung kommen, sie selbst müssen zur Aufhebung ihrer sie vollendenden, zum Ganzen ergänzenden Zukehr zueinander gelangen. Wie schon beobachtet, heißt dies: die Potenzen müssen ihrer Einheit, in welcher sie das Seiende, das Prädikat des Prinzips sind, entsetzt werden und selbst als Prinzipien zur Wirkung kommen. Die Verwechselbarkeit der Potenzen mit dem Prinzip ist die Voraussetzung hierfür3.

So artikuliert sich im Blick auf die Potenzen das uns grundsätzlich bereits vertraute Programm für die negative Philosophie, welches das Ende, welches die innere Endlichkeit des reinen Denkens dem weiteren Weg des Denkens aufgibt.

b) Der Ansatzpunkt: die Ambivalenz des Seinkönnenden Auf welchem Wege es zur „Potenzialisierung“ des Seienden und somit zur Absonderung des Prinzips von seinem es zweideutig verbergenden Was kommen könne, hat sich uns im Charakter der Potentialität als solcher bereits angezeigt. Die „potentielle“ unter den Potenzen ist die erste. Sie ist das von Natur aus Selbstische, das nur in der Latenz, eben in der unentzündeten Potentialität gehalten ist, indem es als Subjekt des Seienden und nicht als das seines eigenen Seins gedacht wird. Die Ambivalenz des Seienden bezüglich des Prinzips ruht auf der Ambivalenz des Seinkönnenden, die Verborgenheit des Prinzips im Seienden wird durch die Verborgenheit des ambivalenten Charakters des Seinkönnenden gewahrt, sofern und solange es sich in seinem bloßen Können hält.

Wie aber ist die „Erhebung“ des Seinkönnenden zu denken? Es ist doch gehalten vom rein Seienden, ist überhaupt nur zu denken in solchem Gehaltensein!

[204] Doch indem es als gehalten nur zu denken ist, ist ineins gedacht, es bedürfe solchen Haltes, es ist also zuvor und an sich selbst in seiner Labilität, und diese ist von ihrem möglichen Übergang her gedacht, also ist dieser implizit, als möglich, mitgedacht. Und indem das Seinkönnende als gehalten gedacht ist, ist es des Weiteren in Hinaussicht auf die dritte Bestimmung, d. h. auf jenen Status des Seienden zu gedacht, in welchem dieses als das „als solches seiende Seinkönnende“ erscheint, als das „zu sein und nicht zu sein erst wirklich Freie“4. Die Möglichkeit des Übergangs des Seinkönnenden ist also am Ende des reinen Denkens, das es in seiner Verhaltenheit und Gehaltenheit denkt, bereits eingeholt, das in der negativen Philosophie aus dem Übergang des Seinkönnenden ins eigene Sein Entwickelte ist letztlich doch „nur die auseinandergezogene Idee“5

Freilich ist das Seiende als Resultat reinen Denkens selbst nur figürlich, selbst nur hypothetisch, es ist das Seiende, wenn eines ist, das es ist. Wirklich, in wirklichem Denken, ist es nur von dort her, vom Prinzip her, also letztlich: in der positiven Philosophie zu denken.

Die „Hypothese“ des reinen Denkens muß sich daher durch die „Gegenhypothese“ der negativen Philosophie bewähren: Das Denken, das – wollte es seinen wesentlichen Inhalt denken – das Seiende in seinen drei Potenzen setzen mußte, versucht nun, ob es von der ersten, der Potenz schlechthin her in der anderen Richtung denken kann, d. h., ob es den Umschlag der ersten Potenz denken kann. Und es kann ihn denken, wenn es ihn so denken kann, daß darin die anderen Potenzen in ein Spiel kommen, in welchem sich zuletzt das Prinzip als solches erweist. Als solches erweist sich das Prinzip aber, wenn es ihnen gegenüber, getrennt von ihnen, Prinzip ist und gerade darin doch wieder ist, was die dritte Potenz ihm vorzeichnete: das zu sein oder nicht zu sein Freie, das als solches seiende Seinkönnende, in welchem das Können nicht dem Sein und das Sein nicht dem Können widerstreitet.

Negative Philosophie ist als das Andere reinen Denkens die Trennung der Potenzen vom Prinzip; als Philosophie, die gleichwohl im Denken geschieht, die denkbar und gedacht ist, ist sie zugleich die [205] Restitution der Potenzen und somit der Aufweis der Mächtigkeit des Prinzips in der Trennung. Alles verläuft in ihr mit Notwendigkeit des Denkens, nur das eine eben nicht, das „Wenn“, das vor der Klammer ihres Geschehens als Vorzeichen steht, und dieses „Wenn“ ist die Erhebung des Seinkönnenden zu sich selbst, zur Potenz seiner selbst.

Was bedeutet diese hypothetische Erhebung des Seinkönnenden, wie verändert sie den Zusammenhang der Potenzen, und wie stellt dieser in der Alteration sich wieder her? Dies sind die Fragen, die sich am Anfang der negativen Philosophie stellen, wenn diese in ihrem Inhalt, d. h. als Potenzenlehre, mitgedacht werden soll.


  1. Vgl. XI 291, 213. ↩︎

  2. XI 315. ↩︎

  3. Vgl. XI 387. ↩︎

  4. XIII 235. ↩︎

  5. XI 365. ↩︎